Sommer 1953

Sex am Dümmer Zwei Männer verbringen ein paar Tage an einem flachen See im Nordwesten und lernen dort zwei junge Frauen kennen. Eine Urlaubsaffäre in der Provinz.

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Der Plot ist nicht spektakulär: Der Ich-Erzähler ( ledig ) und sein Kumpel ( Malermeister mit 15 Gesellen, Witwer, Besitzer eines Motorrads der Marke NSU ) schwadronieren über Gott, den Krieg, den sie als junge Soldaten überlebt haben, über die Welt ( die junge Bundesrepublik ) und über die Frauen. Ihr Autor ist zu diesem Zeitpunkt in der literarischen Szene ziemlich unbekannt und entfesselt mit seiner Geschichte einen Sturm der Entrüstung, der zu einem Prozess wegen Pornographie und Gotteslästerung (Freispruch) führt.

Die Rede ist von der Erzählung „Seelandschaft mit Pocahontas“ von Arno Schmidt, die 1955 im ersten Heft der Literaturzeitschrift „Texte und Zeichen“ veröffentlicht wurde.

Ich hatte mehrfach versucht, Arno Schmidt zu lesen, war aber immer wieder an seiner experimentellen Erzählweise, an seiner Missachtung der Orthographie, seiner demonstrativen Bildung, vor allem aber an der Inbrunst gescheitert, mit der seine Fans ihn verehren.

Einen dieser Fans, W., Literaturwissenschaftler i. R., traf ich gestern in der Stadtbahn mit schwarzweißblauem Schal und zerlesenem Buch. Er war auf dem Weg zur Geschäftsstelle der Arminen, um noch eine Karte für das Spiel am Sonntag gegen St. Pauli zu kaufen. Dann empfahl er mir die Lektüre des Buchs von Klaus Theweleit über Arno Schmidt: Der habe in seiner „Seelandschaft mit Pocahontas“ Sexualität und Gewalterfahrung im Faschismus, die Schilderungen der sexuellen Reize am See mit der Erinnerung ans Kriegsgeschehen verbunden. M. schlug sein Buch auf und zitierte:

„Auch bei den Studenten 1968 sollte mit der Sexualisierung aller Lebensbereiche einerseits Auschwitz überdeckt werden, andererseits wollte man auch an den in einem selbst vergrabenen Gewaltkomplex herankommen. Deshalb strahlte die sexuelle Revolution, in die ja eigentlich zunächst nur ein paar Hundert Leute involviert waren, dann als Sexwelle auf die gesamte Bevölkerung aus. Partnertausch war das Pendant zur Orgie für bürgerliche Kreise. Das war auch ein verdeckter Weg des Umgangs mit der Nazivergangenheit.“

Ich war verwirrt, Auschwitz und die sexuelle Revolution - das kam mir doch ziemlich absurd vor. Icvh wollte nachfragen, aber W. lächelte nur, erhob sich und stieg an der Haltestelle „Bürgerpark“ aus.

Zuhause fand ich im Bücherregal den Band Arno Schmidt, Erzählungen in einer Ausgabe der Büchergilde Gutenberg und las in der nächsten Stunde die Seelandschaft mit Pocahontas ( S.385 – 438 ).

Ich war begeistert. Die später häufig hermetische Erzählweise ist hier noch transparent und voller Humor, die Misogynie des Autors erträglich, die Sexszenen sind eher komisch als pornographisch, die Beobachtungen des westdeutschen Alltags und die Attacken gegen Politik, Kirche und Religion haben auch 60 Jahre später noch Wut und Witz. Beispiele:

SPD:

„… »SPD iss zwa ooch nich mehr, wasse wa: wolln ooch schonn <uffrüsten>: Kinder, wo sind die Zeiten hin, wo se im Reichstag jede Heeresvorlage ablehnten?! Aber s bleibt ja weiter nischt übrich; denn CDU - lieber fress ich n Besen…“

Leitkultur West

"Iss ja nich mehr feierlich, wenn De abends vom NWDR das Gelalle <Hier spricht Berlin hörst!« / (Überlegene westliche Kultur??: Nanu!! : Wo hat sich Goethe denn schließlich niedergelassen: in der Bundesrepublik oder in der DDR he?! Von wo nach wo floh Schiller ? Und Kant hats in Kaliningrad so gut gefallen, daß er sein ganzes Leben lang nicht raus gekommen iss!)"

„Pocahontas“ ist ein guter Einstieg in das Werk Arno Schmidts. Die Erzählung zeigt ihn als einen jungen Autor, der die Erzähltechniken des modernen Romans nach dem Ende des Nationalsozialismus schnell adaptiert hatte, den restaurativen Charakter des westdeutschen Staates und seiner gesellschaftlichen Stützen entschieden kritisierte und über jede Menge Sprachwitz verfügte.

Aber hinter dem experimentellen Erzähler, Zeitkritiker und Humoristen der "Seelandschaft" steckt vielleicht mehr. Ich werde W. bitten, mir den Theweleit zu leihen.

Klaus Theweleit: Der Pocahontas-Komplex.

Band IV: "You give me fever". Arno Schmidt. Seelandschaft mit Pocahontas. Die Sexualität schreiben nach WWII. Verlag Stroemfeld, Frankfurt am Main 1999, 328 S., 48.- DM

Im Freitag hat Walter van Rossum vor langer Zeit (2000) das Buch von Theweleit rezensiert: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/neue-welten

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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