Städtisches linksliberales Bürgertum

Stammtischdiskurse Die Gutmenschen müssen sich rechtfertigen

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N. wartete schon am Stehtisch von Herrn Aziz auf uns. Er trug eine rote Mütze mit Ohrenwärmern und sein Oberlippenbart zitterte, als er mit dröhnender Stimme sagte: „Ihr Typen aus dem städtischen linksliberalen Bürgertum seid dafür verantwortlich, dass der marginalisierte Souverän zu den Rechten überläuft.“

Wir erschraken. Nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, war N., pensionierter Regionaldirektor einer Versicherung, zu den radikalen Überzeugungen seiner Jugend zurückgekehrt und warf uns immer wieder mal vor, in den Jahrzehnten unserer Kumpanei mit den Sozis das Rückgrat verloren zu haben. In letzter Zeit hatte diese Tendenz zugenommen, so dass wir nicht mehr sicher waren, ob seine Ausfälle gegen das Imperium und seine verbeamteten nützlichen Idioten wirklich nur Ausdruck einer spielerischen Lust an der Provokation war.

„Was ist mit dir los, N.? Bist du noch sauer wegen Steinmeier?“ N. winkte ab. Es stellte sich heraus, dass er einen Artikel von Boris Palmer in der FAZ gelesen hatte, in dem der grüne Oberbürgermeister von Tübingen Teilen seiner Wählerschaft vorwirft, ihr Gutmenschentum -eine Mischung aus moralischer Selbsterhöhung, Realitätsverlust und Intoleranz- verhindere, den Extremismus auszugrenzen und den Populismus einzuhegen.

„Na ja“, sagte ich, „wenn ich mit Souvik zu den Ämtern gehe und zweimal in der Woche Amin und Hasan beim Deutschlernen helfe, mache ich das nicht, um mich über meinen Vater, Parteigenosse seit 1936, zu erheben. Und wenn ich das nicht machte: Glaubst du, der deutsche Kleinbürger ließe ab von seinem Hass auf die Flüchtlinge?“

N. meinte, ich solle den Palmer nicht so persönlich nehmen. Es gehe um Strukturen, die eine neoliberale Linke zusammen mit den Eliten in den letzten 15 Jahren geschaffen habe. Der französische Soziologe Eribon habe das heute in der SZ für Frankreich auf den Punkt gebracht: Aus „Wir Arbeiter gegen die Bourgeoisie“ wurde allmählich „Wir Franzosen gegen die Migranten“.

„Da ist was dran“, meine O., „aber den Palmer geht’s nicht um die Kritik an den Folgen eines entfesselten Kapitalismus. Dem geht’s darum, die Flüchtlingshelfer als Gesinnungsethiker abzuwerten und sich selbst als Verantwortungsethiker zu inszenieren. Vielleicht hofft er auf einen nächsten Karriereschritt unter SchwarzGrün.“

Wir redeten noch eine Weile hin und her. Herr Aziz hatte inzwischen seine Filets in der Fischtheke sortiert und bedeutete uns, dass unsere Debatte mögliche Kunden abschrecke. Da machte N. den Vorschlag, wir sollten in der Vorweihnachtszeit die Performance von Wiglaf Droste im Bunker besuchen. Der habe mal was Fieses über den Kampf gegen Rechte geschrieben. Er holte einen Zettel aus der Tasche seiner Barbour-Jacke und las vor:

Verbaler Antifaschismus ist Käse. Militant soll er sein, vor allem aber erfolgreich. Wenn sich dabei herausstellen sollte, daß es sich gegen 50, 60, 70, 80 oder 90 Prozent des deutschen Volkes richtet, dann ist das eben so. Wo Nazis `demokratisch' gewählt werden können, muß man sie nicht demokratisch bekämpfen.

Wir waren nicht überzeugt, stimmten aber um des lieben Friedens willen zu. N. erklärte sich bereit, die Karten zu besorgen. Wir verließen den Stehtisch von Herr Aziz, als die Nachfrage nach Seelachs, Rotbarsch und Kabeljau einsetzte. O. musste seinen Bericht über blonde Sängerinnen auf den Färöern noch einmal verschieben.

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

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