Das überraschte uns. Etwas sprachlos rührten wir in unserem Kaffee beim Steh-Italiener auf dem Siggi.
Ganz unvermittelt hatte N. gefragt: „Euch ist doch klar, dass wir nützliche Idioten Merkels sind, deren Flüchtlingspolitik eine bizarre Mischung aus Sentimentalität, Vorbereitung künftiger schwarzgrüner Koalitionen und deutschnationaler Machtpolitik in Europa ist? Meint jedenfalls Streeck.“
Vorher hatte D. hatte mit Erfolg versucht, uns für ein Projekt für geflüchtete Kinder und Jugendliche ohne Schulplatz zu gewinnen, das ihnen an zwei Vormittagen in der Woche ein Bildungsangebot machen will, und ich hatte davon erzählt, dass Souvik aus Dakka bei unserem Ausflug zum Wasserstraßenkreuz unbedingt ein Foto von sich auf der MS Europa vor der deutschen Flagge haben wollte.
„Du meinst wirklich diesen Wolfgang Streeck?“, fragten wir zurück, „den Soziologen, Ex-Bielefelder und Ex-Sozialdemokraten, den, der vor Jahren das Ende des demokratischen Kapitalismus so scharfsinnig analysiert hat?“
„Ja. Ich zitiere mal.“ N. zog einen Ausdruck von Streecks Artikel im London Review of Books aus der Manteltasche und las mit heavy german accent vor:
„… indeed Germans think it is supremely moral, as they identify their control of Europe with a post-nationalism understood as anti-nationalism, which in turn is understood as the quintessential lesson of German history… The result is rapidly rising anti-German sentiment in the form of anti-European sentiment, not only among political elites but also, most powerfully, among the electorate.”
N. zog einen zweiten Zettel aus der Manteltasche: “Zum Referendum in den Niederlanden sagt Streeck: Ich glaube, dass das zurzeit die einzige Kommunikationsmöglichkeit ist, die die Bevölkerungen gegenüber diesen Eliten haben. Die müssen einfach sagen: Wir wollen das nicht mehr.“
Das waren steile Thesen, die wir so früh am Morgen im Nieselregen an unserem Stehtisch zwischen Fisch-Feinkost und Bio-Bauern nicht ernsthaft diskutieren wollten. Vielleicht am nächsten Freitag, nachdem wir den ganzen Artikel gelesen haben werden. Einstweilen wollten wir an unserem Gutmenschentum festhalten.
Wir fragten O., unseren Poeten, ob nicht die Poesie angesichts der allgemeinen Konfusion einen Trost bereit halte. Dem fielen nach einigem Nachdenken nur diese altbewährten Verse ein:
Hie und da kommt es vor
daß einer um Hilfe schreit.
Schon springt ein andrer ins Wasser,
vollkommen kostenlos.
Mitten im dicksten Kapitalismus
kommt die schimmernde Feuerwehr
um die Ecke und löscht, oder im Hut
des Bettlers silbert es plötzlich.
Vormittags wimmelt es auf den Straßen
von Personen, die ohne gezücktes Messer
hin- und herlaufen, seelenruhig,
auf der Suche nach Milch und Radieschen.
Wie im tiefsten Frieden.
Ein herrlicher Anblick.
Na ja. Etwas kleinlaut verabschiedeten wir uns ins Wochenende.
Der ganze Artikel von Streeck hier: http://bit.ly/1q7PZ59
Das Gedicht stammt von H.M.Enzensberger, hat den Titel „Optimistisches Liedchen“ und stammt aus dem Jahr 1999
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