Nachdenken über die Zukunft

Kertész Imre Der ungarische Nobelpreisträger für Literatur starb heute in Budapest. Das KZ Buchenwald verzeichnete bereits im Februar 1945 seinen „Abgang“

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eines Tages brachte mir die Post einen großen braunen Umschlag. Er kam vom Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, Dr. Volkhard Knigge. Seinen herzlichen Glückwünschen hatte er einen kleineren Umschlag beigefügt und dessen Inhalt vorab erklärt, damit ich, falls ich eventuell nicht die Kraft dazu hätte, mich nicht mit ihm konfrontiere. In dem Umschlag fand sich nämlich eine Kopie der Tagesmeldung über den Häftlingsbestand des Konzentrationslagers Buchenwald am 18. Februar 1945. Unter der Rubrik „Abgänge" erfuhr ich darin vom Tod des Häftlings Vierundsechzigtausendneunhunderteinundzwanzig, Imre Kertész, geboren 1927, Jude, Fabrikarbeiter. Die beiden falschen Angaben: die über mein Geburtsjahr und meinen Beruf, waren deshalb hineingeraten, weil ich bei der Aufnahme in die Administration von Buchenwald angegeben hatte, zwei Jahre älter zu sein, um nicht unter die Kinder eingereiht zu werden, und Fabrikarbeiter statt Schüler, um brauchbarer zu erscheinen.

Einmal bin ich also schon gestorben, um leben zu dürfen - und vielleicht ist dies meine wahre Geschichte. Wenn es sich so verhält, dann widme ich das aus diesem Kindertod geborene Werk den vielen Millionen Toten und allen denen, die sich heute noch dieser Toten erinnern. Doch da es sich letzten Endes um Literatur handelt, eine Literatur, die der Begründung Ihrer Akademie zufolge zugleich Zeugnis ist, mag es vielleicht auch für die Zukunft von Nutzen sein, ja, am liebsten würde ich sagen: möge es der Zukunft dienen. Denn nach meiner Auffassung stoße ich, wenn ich mich mit der traumatischen Wirkung von Auschwitz auseinandersetze, auf die Grundfragen der Lebensfähigkeit und kreativen Kraft des heutigen Menschen; das heißt, über Auschwitz nachdenkend, denke ich paradoxerweise vielleicht eher über die Zukunft nach als über die Vergangenheit.

Nachtrag vom 01.04.2016

Auf der Suche nach Äußerungen von Kertész zur Situation der Gegenwart fand ich in rechten Blogs diese Zitate, die angeblich aus seinem letzten Buch „Letzte Einkehr: Ein Tagebuchroman“ (2015) stammen:

„Europa wird bald wegen seines bisherigen Liberalismus untergehen, der sich als kindlich und selbstmörderisch erwiesen hat. Europa hat Hitler hervorgebracht; und nach Hitler steht hier ein Kontinent ohne Argumente: die Türen weit offen für den Islam; er wagt es nicht länger über Rasse und Religion zu reden, während der Islam gleichzeitig einzig die Sprache des Hasses gegen alle ausländischen Rassen und Religionen kennt.“

„Ich würde darüber reden, wie Muslime Europa überfluten, besetzen und unmissverständlich vernichten; darüber, wie Europa sich damit identifiziert, über den selbstmörderischen Liberalismus und die dumme Demokratie.. Es endet immer auf dieselbe Weise: Die Zivilisation erreicht eine Reifestufe, auf der sie nicht nur unfähig ist sich zu verteidigen, sondern auf der sie in scheinbar unverständlicher Weise seinen eigenen Feind anbetet.“

War Kertész am Ende seines Lebens ein Warner vor der Islamisierung Europas, ein Prophet seines Untergangs, von Liberalismus und Demokratie seinen Feinden ausgeliefert? Ich kenne den Kontext dieser Sätze nicht, mag sein, dass er sie entschärft und plausibel macht. Aber sie irritieren mich.

Aus der Nobelvorlesung von Imre Kertész im Dezember 2002 in Stockholm. Die ganze Rede hier: http://bit.ly/1VXQRpo

Zu Leben und Werk: http://bit.ly/1X2C5vG

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden