Liebeslyrik

Stammtischdiskurs Die triste politische Lage ist eine Gelegenheit, sich auf Dinge zu besinnen, die auch noch wichtig sind

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Nachdem wir Merkels Fallrückzieher in der Flüchtlingspolitik („Wendehals“) und N.s Prophezeiung diskutiert hatten, nach den Wahlen würden wir am Montag in der Haselnuss-Republik („Schwarz-braun“) aufwachen, fragte uns O., der beste Lyriker der Stadt, welches Liebesgedicht wir für den morgen beginnenden Literaturmarathon von WDR 5 vorschlagen würden. Wir nippten am Espresso und dachten nach.

N. sagte, er finde ein Gedicht von F.C. Delius gut, das er mal in seiner Jugend gelesen habe, von dem er aber nur noch den Titel erinnere: Eine Biologin erklärt einem Juso in einer Mainacht die Entstehung der Welt.

D., unser Luhmann-Schüler, meldete zunächst Zweifel daran an, dass Liebe überhaupt möglich sei, schlug dann aber ein paar Verse aus dem Mittelalter vor: Dû bist mîn, / ich bin dîn. / des solt dû gewis sîn. / dû bist beslozzen / in mînem herzen, / verlorn ist das sluzzelîn:/ dû muost ouch immêr darinne sîn. „Wenn schon die Illusion der Liebe lobpreisen“, sagte er, „dann aber die volle naive Dröhnung.“

Ich sagte, dass ich ein Gedicht von Friederike Mayröcker empfehlen könnte: wie ich dich nenne / wenn ich an dich denke / und du nicht da bist: meine Walderdbeere / meine Zuckerechse / mein Trosttüte / mein Seidenspinner / mein Sorgenschreck / meine Aurelia. Es folgten noch einunddreißig andere Namen, darunter so schöne wie mein Rüsselhase, mein Zittergaul oder mein Rückwärtszähler.

O. schlug in all seiner Bescheidenheit ein eigenes Gedicht vor: Als Max starb / hinterließ er / ihr nichts / als seine Stimme / auf dem Anruf / beantworter. // Eines Tages / als es sie packte / fuhr sie raus / nur um zuhaus / anzurufen / und diese Stimme / zu hören wie / sie heranrollte / dunkel und sanft. // Sprechen Sie nach / dem Signalton. /Ich rufe zurück. // Sie hinterließ / ihm nichts / als ihr Atmen.

O. bot an, sein Gedicht für uns zu interpretieren. Das lehnten wir ab – es sei doch klar, dass er einem überholten Konzept von Liebe nachtrauere, Treue über den Tod hinaus oder so ähnlich. Auch die ironische Brechung durch das Bild des Anrufbeantworters, der die Trennung der Liebenden durch den Tod für einen Moment aufhebe, ändere nichts an der hoffnungslosen Sentimentalität seiner Verse. Intimität zu zweit ist kaum möglich, zitierte D. seinen Meister und fügte hinzu: „Was im Leben nicht gelingt, hat nach dem Tod des Partners eh keine Chance."

Wir beendeten unseren Diskurs über die Liebe, als an der Fischtheke nebenan der Preis für Heringsstipp gesenkt wurde, und verabredeten uns für Sonntagmittag am Siggi, wo die Aktion der Grünen „Radeln gegen rechts“ starten soll.

Der Livestream des Literaturmarathons (bis Sa, 22:00) hier: http://bit.ly/1XkJR44

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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