"Verführer war das Buch"

Bibliophilie Wie die gemeinsame Lektüre von Romanen in Romanen die Liebe entfacht

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Während sich B. die Übertragung vom Tennisturnier in Halle/Westf. anschaute, las ich eine Fußnote bei Vollmann, in der dieser ein kurioses Motiv der Literatur durch die Jahrhunderte verfolgt: Ein Mann und eine Frau lesen gemeinsam einen Roman und verlieben sich.

Er zitiert Dante:

Wir lasen eines Tages zum Vergnügen / von Lancelot, wie ihn die Liebe drängte; / alleine waren wir und nicht verdächtig. / Mehrmals ließ unsre Augen schon verwirren / dies Buch und unser Angesicht erblassen, / doch eine Stelle hat uns überwältigt. / Als wir gelesen, daß in seiner Liebe / er das ersehnte Antlitz küssen mußte, / hat dieser, der mich niemals wird verlassen, / mich auf den Mund geküßt mit tiefem Beben. / Verführer war das Buch und ders geschrieben. / An jenem Tage lasen wir nicht weiter.

Er zitiert Gottfried von Straßburg:

Die liebliche Linde versüßte ihnen mit ihren Blättern die Luft und den Schatten. Durch ihren Schatten waren die Winde lieblich, sanft und kühl. Die Ruhebank der Linde bestand aus Blumen und Gras, der am schönsten gemalte Rasen, den je eine Linde hatte. Dort saßen sie aneinandergeschmiegt, die treuen Liebenden, und erzählten sich von sehnsuchtsvoller Liebe derer, die vor ihrer Zeit aus Liebe gestorben waren …

B. kam auf die Terrasse. Ich fragte sie, ob sie sich an die gemeinsame Lektüre von Romanen zu Beginn unserer Beziehung erinnern könne. Nein. Sie wisse nur noch, dass wir uns damals über den Revisionismusstreit in der SPD des Kaiserreichs gestritten hätten – warten auf die nach den Gesetzen der Geschichte unausweichliche Revolution oder aktives Engagement für die Rechte von Arbeitern und Demokratisierung des politischen Systems. Aber Romane? Nein.

„Nun Schluss mit romantischer Nostalgie“, sagte sie, „bring die Gartenabfälle zum Wertstoffhof und sorg für stilles Wasser.“

Rolf Vollmann, Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer. Frankfurt am Main 1997. S. 137ff

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

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