Warten vorm Klinikum

Knoten Rettung lauert überall. Wirklich?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Mit der Stadtbahn zum Klinikum, in dem B. am frühen Morgen einen Termin für die Mammografie hat. Nach einem maskierten Kuss trennen wir uns. Ich suche im Wartebereich der Bahn einen windgeschützten Sitzplatz und vertiefe mich in die Lektüre der Lokalzeitung:

Viel Aufregung auf der Leserbriefseite wegen der Zustände im Gesundheitsamt. Das hatte über Weihnachtstage und Jahreswende die Übersicht über die Neuinfektionen verloren, weil viele Mitarbeiter/-innen Urlaub hatten, das Home-Office aus technischen Gründen nicht funktionierte und der Leiter der städtischen Steuerungsgruppe durch ein Burnout nicht einsatzfähig war. Sprecher von FDP und AfD fordern Aufklärung und prophylaktische Ablösung des zuständigen Beigeordneten, der als aussichtsreicher Kandidat der SPD für das Amt des Oberbürgermeisters galt.

Der Sieg der Arminen über die Favoriten aus Stuttgart befeuert die Textproduktion der Sportredaktion. Tenor ist: Wir sind ja besser als wir dachten! Jetzt ist der Klassenerhalt möglich! Der Maskierte neben mir, der mit Abstand den Sportteil mitliest, schüttelt den Kopf: Sie haben einfach nur Glück gehabt, der achte Abstieg ist mit dieser Mannschaft unvermeidlich.

Das Feuilleton ist beeindruckt von der jungen Poetin, die bei der Amtseinführung von Biden ihr Gedicht mit Leidenschaft und Sprachgewalt rezitierte. Es dokumentiert die letzten Verse in einer vorläufigen Übersetzung:

Wenn der Tag anbricht, treten wir aus dem Schatten hervor,

flammend und ohne Angst.

Die neue Morgendämmerung erblüht, wenn wir sie befreien.

Denn es gibt immer Licht.

Wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen.

B. kommt zur Haltestelle. Körpersprache und Mimik verheißen nichts Gutes: Knoten in der linken Brust, Gewebeproben entnommen, Ergebnisse in der nächsten Woche, danach eventuell CT, Lymphdrüsen offenbar nicht befallen. Wir umarmen uns, ein maskierter Kuss und fahren stumm zurück. Zuhause lesen wir den Bericht des Klinikums an den Hausarzt. Dort heißt es, der maligne Charakter des Knotens sei „wahrscheinlich“. B. weint leise, wir trinken Espresso. Sie zieht sich in ihr Arbeitszimmer zurück und telefoniert mit den Töchtern. Ich höre sie sagen: Keine Panik, noch ist nichts sicher, Vertrauen in die moderne Medizin und außerdem gilt das altbulgarische Sprichwort: Rettung lauert überall.

Ich denke an die Verse von Amanda Gorman

Denn es gibt immer Licht. / Wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen.

und hoffe, die Dichterin hat Recht – für die kaputte US-Gesellschaft und für uns, die wir uns bis jetzt für Glückspilze hielten.



Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden