Demo in Brakelsiek

Stammtischdiskurse Schlechte Stimmung unter den Gutmenschen

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Starkregen peitschte am Morgen über den Siggi, die Gutmenschen suchten Schutz unter dem Vorzelt eines Bio-Käsestands.

Der Händler kam aus Lippe und erzählte mit einigem Stolz, in Brakelsiek hätten am Abend nach der Proklamation Steinmeiers SPD, CDU und der TuS 08 zu einem Fackelzug zu Ehren des Kandidaten, des berühmtesten Sohnes des Dorfes, aufgerufen („Wir werden Präsident“) und die zahlreichen Mitläufer hätten nach der Demo auf dem überdachten Grillplatz bei Pickert, Detmolder Pils und Wacholder noch stundenlang gefeiert.

Wir waren skeptisch und bezweifelten die Faktizität seiner Erzählung. Wer würde schon für einen Anti-Charismatiker wie Steinmeier auf die Straße gehen? Der Lipper aber beteuerte die Zuverlässigkeit seines Informanten. „Lippe ist anders“, sagte er, „wir schätzen nicht Inszenierung und Glamour, sondern graue Normalität und Verlässlichkeit.“

Eine Bö brachte das Vorzelt zum Rappeln. Das war die Chance für O., von seiner Reise auf die Färöer zu berichten. „Jede Menge Wind, Klippen, Vögel, Schafe und ein paar blonde Lyrikerinnen“, begann er, aber N. wollte den Fackelzug für Steinmeier noch nicht auf sich beruhen lassen: „Auch wenn es den nicht gegeben haben sollte, ist der Fackelzug doch ein gutes Bild für unseren Zustand: Statt dem Mann einzuheizen, der die Demontage des Sozialstaats organisiert hat und die gewaltbereite Rückkehr Deutschlands in die Weltpolitik vorbereitet, versammeln sie sich bei Regen und Wind, um ihn ihrer Zustimmung zu versichern. Steinmeier und seine Lipper sind das Symbol einer überlebten Ordnung, die nächstes Jahr im Frühling der europäischen Völker untergehen wird.“

„Mensch N.“, sagten wir, peinlich berührt, „deine Radikalität klingt heute ziemlich reaktionär. 1968 ist vorbei. Pass auf, dass du rote Socke nicht bei den Rechten landest, die suchen hier noch einen Direktkandidaten für die Landtagswahl.“

N. schmollte und verließ uns grußlos. Als der Starkregen nachließ, empfahl sich O., indem er Verse eines färöischen Dichters rezitierte (Die Vision ist Fleisch / sagte das Huhn zum Hahn / an einem eierlosen Tag) und ich besorgte für Totensonntag noch schnell einen kleinen Kranz.

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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