Der Geist des Neofaschismus

Polen Wrocław ist zur Europäischen Kulturhauptstadt gekrönt worden. Der Angriff der Nationalisten auf die europäische Wertegemeinschaft wird dabei einfach ignoriert

Mit großem Tamtam wurde am Wochenende die Europäische Kulturhauptstadt 2016 in Wrocław, kurz ESK, eröffnet. Der eingeflogene ESK-Kurator Chris Baldwin choreographierte den Festumzug „Die Erwachung“, dem sich trotz eisiger Kälte zahlreiche Menschen anschlossen. Die Vier Geister der Stadtgeschichte (Geist der Flut, des Wiederaufbaus, der Vielen Religionen sowie der Innovation) verbanden sich in der Innenstadt, wo auf sie eine Militärblaskapelle wartete. Welches der zusammengeschweißten Rohre auf Rädern jeweils welchen Geist verkörperte, war selbst für Ortskundige nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Das Resümee der hermetischen Veranstaltung fällt auch unter lokalen Kulturschaffenden ernüchternd aus: banales Szenario, künstliches Finale, geflissentliche Vermeidung kontroverser Themen. Dabei war es der Geist des Aufbegehrens und der Kritik, der seit jeher die besondere kulturelle und politische Atmosphäre von Wrocław prägte. Dramaturgen wie Jerzy Grotowski und Schriftsteller wie Tadeusz Różewicz wirkten nicht zufällig in dieser Stadt.

Kultur als Marketingmaßnahme

Józef Pinior, der gemeinsam mit Władysław Frasyniuk 1980 die Strukturen der Solidarność in der Region schuf, vermisste in der Parade „den Geist, der Toleranz, der Offenheit und Europas – Werte die in uns heute sehr nahe stehen müssten“. Pinior kritisierte zugleich die Rede des Vizepremiers und Bildungsministers Piotr Gliński bei der ESK-Gala, der sie für geopolitische Eskapaden instrumentalisierte. Gliński unterstrich, dass das Christentum die Grundlage des Erbes der EU und die „polnische Demokratie stabil und verantwortungsvoll” sei. Einige TeilnehmerInnen reagierten mit Buhrufen sowie „Propaganda“.

Die Stadt hat durchaus einiges an unabhängiger und avantgardistischer Kultur vorzuweisen. Im offiziellen ESK-Programm ist davon jedoch wenig. Unabhängige Initiativen wie das engagierte Projekt Recycled Sounds, bei dem Roma und Kinder aus einem benachteiligten Stadtteil aus Abfällen Instrumente und ein Orchester aufbauten, wurden bei der Titel-Bewerbung zwar in Anschlag gebracht, jedoch nicht ins Programm aufgenommen. Ein Bürgerrat für Kultur (Obywatelska Rada Kultury) bemühte sich, diese „Kultur-Walze“ von unten aufzuhalten, protestierte gegen die Herabsetzung der Kultur zu einer Marketing-Maßnahme und forderte die Stärkung der Kulturbildung und Jugendarbeit.

Grassierender Antisemitismus

Die Vergabe des imagefördernden Titels durch die EU an die niederschlesische Stadt macht ein grundlegendes Problem in Europa sichtbar. Der Titel soll „den Reichtum und die Vielfalt der europäischen Kulturen sowie ihre Gemeinsamkeiten veranschaulichen“ und ein besseres Verständnis der BürgerInnen Europas füreinander ermöglichen. Der Zusammenprall der Wunschvorstellungen von einer „Wertegemeinschaft“ mit dem Rechtspopulismus und Nationalismus in Europa spricht eine andere Sprache. Erst wenige Tage nach dem Jahrestag der Reichspogromnacht wurde in Wrocław die Puppe eines Juden mit EU-Fahne verbrannt. Seit längerem häufen sich Überfälle auf Ausländer. In der Synagoge wurden Scheiben eingeworfen.

Die Hoffnungen, die ESK werde durch eine kluge Kulturförderpolitik die soziale Kluft schließen und der Ausländerfeindlichkeit begegnen, haben sich nicht erfüllt. Das Treiben der neofaschistischen Szene in Wrocław wird verharmlost. Nach den antisemitischen Vorfällen vor dem Rathaus versuchten die ESK-Macher lediglich in einem offenen Brief den Nationalisten die vermeintlichen Werte „Gott, Ehre, Vaterland“ streitig zu machen, anstatt dem grassierenden Antisemitismus den Kampf anzusagen.

Kamil Majchrzak stammt aus Wrocław und engagierte sich dort in der alternativen Kulturszene. in Deutschland arbeite er unter anderem als Regieassistent für Hans-Christian Schmids Spielfilm „Lichter“

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