Das Bühnenbild hat sich seit Jahren wenig verändert. Nur die von Polens Intelligenzija einst angehimmelten Arbeiter sehen sich aus der Hauptrolle in der Erzählung vom Fall des Kommunismus in der ehemaligen Volksrepublik verdrängt. Die Werftarbeiter aus Gdansk dürfen heute nicht einmal mehr als Komparsen auftreten. Zuschauerplätze stehen nur bedingt zur Verfügung – aus Sicherheitsgründen.
„Ich will nicht, dass Gewerkschafter mit Solidarność-Fahnen auf Polizisten einprügeln und umgekehrt.“ Mit dieser klaren Aussage begründete vor gut einem Jahr Premier Donald Tusk, dass er die Feierlichkeiten zum „Sturz des Kommunismus” (sie galten dem 4. Juni 1989, dem Tag erster halb freier Wahlen in Polen) von Gdańsk auf die Wawel-Burg in Kraków verlegen ließ. Das aristokratische Ambiente hatte eine andere Klasse als das bodenständig proletarische Milieu an der Gdansker Ostsee-Küste. Schließlich wurde auf dem Wawel der bei einem Flugzeugabsturz verunglückte rechtskonservative Präsident Lech Kaczyński in einem Alabaster-Sarkophag neben Königen zur endgültigen Ruhe gebracht.
Wenn nun am 31. August 2010 der 30. Jahrestag der Solidarność-Gründung gefeiert wird, hat sich nur die Melodie geändert. Vor fünf Jahren spielte Jean Michel Jarre mitten in den Gdansker Werftanlagen seine Shipyard Overture Industrial Revolution. Während der Aufführung protestierten vor dem Gelände die Solidarność-Pioniere Anna Walentynowicz, Joanna und Andrzej Gwiazda sowie andere Aktivisten. Ohne sie hätte es die Gewerkschaft kaum je gegeben. 2010 lädt man vorsichtshalber zum Jubiläums- und Mega-Konzert nicht in die Werft, sondern nach Katowice. Aus Deutschland ist Alphaville mit dem Smash-Hit Forever Young dabei.
Was ist übrig geblieben von der einst so starken, progressiven Solidarność und ihrem Willen zur Selbstverwaltung der Fabriken?
Delegiertenkongress 1981
In einem Land, das in den achtziger Jahren die Gewerkschaftsmitgliedschaft von vier Fünfteln aller Beschäftigten vorweisen konnte (davon zehn Millionen Polen in einer der Solidarność-Sektionen), ist heute gerade noch jeder Zehnte organisiert. Anfang 1990 war jeder zehnte Arbeiter Mitglied der Solidarność, heute ist dies gerade nur noch jeder Fünfzigste. Seit der kapitalistischen Transformation stieg die Zahl der Arbeitslosen mal mehr, mal weniger. Augenblicklich liegt die Quote bei 10,6 Prozent der Beschäftigten. Nach Angaben des staatlichen Statistischen Hauptamtes (GUS) leben 59 Prozent der Polen unter dem Sozial-, weitere zwölf Prozent unter dem Existenzminimum. Ein Indikator, welches Maß an sozialer Ausgrenzung sich eine Gesellschaft (noch) leisten kann.
Mein Redaktionskollege Zbyszek Kowalewski – in den achtziger Jahren ein Theoretiker der Taktik des „Aktiven Streiks“, bei dem Arbeiter durch Betriebsbesetzungen die Produktion selbst übernehmen sollten – war maßgeblich an der Niederschrift des Selbstverwaltungsprogramms der Solidarność beteiligt, das dem I. Delegiertenkongress im Herbst 1981 vorlag. Es skizzierte eine Alternative zu Real-Sozialismus und Kapitalismus. Arbeiterräte sollten die Betriebe leiten und in einer speziellen Kammer des Parlaments repräsentiert sein – Betriebsdirektoren durch die Belegschaften gewählt werden. Doch ein Referendum darüber kam durch das im Dezember 1981 verhängte Kriegsrecht nie zustande. Zbyszek Kowalewski gilt diese Zäsur im Rückblick als Anfang vom Ende der radikalen Solidarność-Phase, weil die Gewerkschaftsfunktionäre von der Basis getrennt und in den Untergrund getrieben wurden.
Er erinnert sich, 1988 flammten Streiks und Proteste zum letzten Mal in der Volksrepublik auf, wurden aber von den Eliten der Bewegung abgewürgt, um mit der Nomenklatura der regierenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) am Runden Tisch verhandeln zu können. In den Jahren danach wurde aus dem Elektriker Wałęsa ein Präsident, avancierten andere Solidarność-Sprecher zu Politikern, Bankdirektoren und Unternehmern. Es verwundert kaum, dass die einstigen Protagonisten heute dermaßen zerstritten sind. Als sich 2003 im Gdansker Marine-Museum Gewinner und Verlierer der Transformation bei einer Konferenz gegenüber saßen, knisterte die Luft.
Walesa, der Agent
Für die von Radio Maryja behüteten Verlierer der „Wende“ ist jede marxistische Analyse der Niederlage ein Werk des Teufels. Für die Entfremdung der Solidarność-Funktionäre von der Basis in den Jahren des Kriegszustandes behilft sich der Sender mit verschwörungstheoretische Erklärungsmustern, versehen mit mehr als einem Hauch Katholizismus, Russophobie und Antisemitismus. Die Sehnsucht gilt dem guten Kapitalismus in Großbritannien zu Zeiten Margret Thatchers. So jedenfalls liest man es häufig in der Zeitschrift Obywatel, dem Zentralorgan der neuen Rechten.
Durch das Geschichtsbild von Radio Maryja geistert ein Wałęsa, der als Agent der polnischen Staatssicherheit im August 1980 mit einem Motorboot des Geheimdienstes in die Lenin-Werft kam, um den Streik zu beenden. Er sei nicht wie behauptet über das Tor gesprungen. Die in Deutschland von Regisseur Schlöndorff als Heldin gefeierte Anna Walentynowicz assistiert: „Walesa hat die freien Gewerkschaften kompromittiert“. Zu Anhängern dieser Lesart der Geschehnisse vom August 1980 gehört auch Andrzej Gwiazda, Herausgeber des erwähnten Obywatel. Für ihn wie andere ist unstrittig, nicht der Kapitalismus ist der Grund ihrer Niederlage – Wałęsa sei als IM Bolek im Verein mit antipolnischen Mächte an allem schuld. Lech Kaczyński hat diese Arbeiterkämpfer aus frühen Solidarność-Jahren für sein Projekt der so genannten IV. Republik rekrutiert. Gerade deshalb empfindet sein Anhang den Absturz von Smolensk als weiteren Beleg für eine antipolnische Verschwörung, deren Drahtzieher laut Radio Maryja „die Juden“ und „die Kommunisten“ sind.
Im Unterschied dazu spricht Zbyszek Kowalewski von einer „Real-Politik kapitalistischer Staaten“, die in Polen vor 1989 soziale Bewegungen wie Solidarność im Kampf gegen den Kommunismus instrumentalisiert hätten. Kowalewski kam durch Zufall kurz vor dem Kriegszustand Ende 1981 auf Einladung der französischen Gewerkschaft CFDT nach Paris, wo er bis in die neunziger Jahre hinein blieb. Er leitete dort ein Solidaritätskomitee der Solidarność, als dessen Schatzmeister sich der Philosoph Michel Foucault zu Verfügung gestellt hatte.
Damals tauchte plötzlich Jerzy Milewski auf, ein Aktivist der Gdansker Solidarność, und lud alle Emigranten zu einem Treffen nach Brüssel ein. „Zu meiner Verwunderung verlangte er dort, dass wir einen unterwürfigen Brief an Präsident Reagan unterschreiben“, erzählt Kowalewski. „So sahen sich die Solidarność-Komitees auf Linie gebracht. Nicht nur gleichgeschaltet, sondern auch bereit, die Beschlüsse des I. Delegiertenkongresses von 1981 zu kippen. Begründung: Deren sozialistischer Charakter würde potentielle Unterstützer abschrecken. Jedenfalls die, auf welche nun gesetzt werden müsse.“
Im September 1985 veröffentlichte die im Untergrund wirkende Temporäre Koordinations-Kommission (TKK) der Solidarność ihre „Wirtschafts-Postulate”, in denen nichts mehr stand über Vergesellschaftung, demokratische Planung oder Arbeiterselbstverwaltung als Fundament einer neu zu gründenden Republik. Zwar wurde nicht offen zur Privatisierung aufgerufen, doch nichts anderes als der Weg zur Restauration des Kapitalismus eingeschlagen. So wurde das Solidarność-Programm, wie es im Sommer 1980 entstanden war, von Zbigniew Bujak, Bogdan Borusewicz und anderen TKK-Mitgliedern, die ohne jede demokratische Legitimation der Gewerkschaftsbasis agierten, faktisch annulliert. Kein Wunder, dass die heutige Solidarność nur ein Zombie ist, der mit den Kämpfen von einst kaum etwas zu tun hat.
Kamil Majchrzak ist Redakteur der polnischen Edition von Le Monde Diplomatique
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