UNICEF, bitte keine Doppelmoral mehr

Genitalverstümmelung Genitalverstümmelung bei Kindern darf nie mit zweierlei Maß gemessen werden.

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Das weltweite Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, hat unlängst in seinem deutschen Blog einen Artikel zum Thema Genitalverstümmelung bei Kindern mit dem Titel „Kein Kind sollte solche Schmerzen erfahren müssen“ veröffentlicht. Toll. Oder?

Nein, es geht hier nicht um Genitalverstümmelung bei allen Kindern, sondern „nur“ um Genitalverstümmelung bei Mädchen. Jungen sind mal wieder außen vor, von intergeschlechtlichen Kindern ganz zu schweigen.

Genitalverstümmelung bei Mädchen wird im Englischen oftmals als FGM (Female Genital Mutilation) abgekürzt. Wer FGM verharmlosen will, nennt es FGC (Female Genital Cutting). Ja, es gibt Menschen, die finden, Genitalverstümmelung bei Mädchen gäbe es nicht, es sei nur eine „Beschneidung“.

Genitalverstümmelung bei Jungen wird im Englischen oftmals als MGM (Male Genital Mutilation) abgekürzt. Wer MGM verharmlosen will, nennt es MGC (Male Genital Cutting). Ja, es gibt Menschen, die finden, Genitalverstümmelung bei Jungen gäbe es nicht, es sei nur eine „Beschneidung“. Daher redet man im englischen Sprachraum auch gern standardmäßig von female mutilation und male circumcision, um die Doppelmoral auch verbal zu festigen.

Genitalverstümmelung bei intersexuellen Kindern (IGM) wird bei den meisten Menschen einfach ausgeblendet, weil viele Menschen noch immer binär denken und meinen, es könne nur weibliche und männliche Menschen geben. Die Natur würfelt aber gern und bietet alle erdenklichen Varianten. Nur weil offensichtlich (sic!) weibliche und männliche Kinder am häufigsten vorkommen, heißt das im Sinne der Menschenrechte nicht, dass die anderen keine Rechte haben sollten.

Der UNICEF-Blog bietet eine Kommentarfunktion. Ob Kommentare erscheinen oder nicht, wird redaktionell festgelegt. Meine erschienen bisher nicht. So lautete einer:

„Es ist richtig und wichtig, dass gegen alle Fornen von Genitalverstümmelung an Kindern angegangen wird und diese weltweit verbreitete Praxis des Machtmissbrauchs durch Erwachsene an Kindern strafbar wird. Bei Mädchen und FGM ist das schon in vielen Ländern der Fall. Aber in allen Ländern, in denen es FGM gibt, gibt es auch MGM. Auch Genitalverstümmelung bei Jungen (und intersexuellen Kindern) muss strafbar werden.“

Netterweise hat mir UNICEF per E-Mail geantwortet:

„Vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihr Interesse an dem Thema.

Die weibliche Genitalverstümmelung/-beschneidung ist eine schwere Menschen- und Kinderrechtsverletzung. Sie kann zu lebenslangen Beschwerden und Komplikationen führen. Für viele Mädchen endet der Eingriff tödlich. Die Abschaffung dieser Praxis ist Ziel der internationalen Gemeinschaft in der Agenda für nachhaltige Entwicklung (SDG Ziel Nr. 5). Wir setzen uns für dieses Ziel ein, u.a. mit diesem Beitrag. Wir wissen, dass das Thema Jungenbeschneidung kontrovers und emotional diskutiert wird UNICEF nimmt die Bedenken ernst, die in Bezug auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung geäußert werden.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr UNICEF-Infoservice
Spenderkommunikation
Bereich Kommunikation und Kinderrechte“

Ob es UNICEF hier um Kinderrechte oder doch nur um Spendenakquise geht, sei dahingestellt.

Meine Antwort per E-Mail an UNICEF sei auch dahingestellt, direkt hier:

„… vielen Dank für Ihre Antwort. Es ist aus Sicht aller Menschenrechtsaktivisten falsch, Genitalverstümmelung bei Mädchen (FGM) und Jungen (MGM) unterschiedlich zu bewerten.

Wenn es um quantitative Unterschiede gehen würde, müsste MGM viel eher geächtet werden als FGM, weil MGM zahlenmäßig weltweit viel häufiger vorkommt.

Wenn es um qualitative Unterschiede gehen würde, müsste man genau differenzieren, um welche Art von FGM oder MGM es sich handelt. Die WHO hat dafür bei FGM sogar einen Katalog von Schweregraden festgelegt, bei denen einige deutlich unter der landläufig als „Beschneidung“ verstandenen männlichen Genitalverstümmelung liegen. Wenn z.B. in einem Ritual bei Mädchen nur ein klein wenig Haut an den Schamlippen eingeritzt wird, damit etwas Blut fließt („a ritual nick“), ist das mit einiger Sicherheit keine schwere Menschen- und Kinderrechtsverletzung, wenngleich es immer noch eine Körperverletzung ist.

Seit dem Roman „Wüstenblume“ von Waris Dirie ist in vielen Köpfen das Bild von der sogenannten pharaonischen Beschneidung bei Frauen und Mädchen, die tatsächlich eine extreme Genitalverstümmelung ist, mit dem Entfernen von Klitoris[spitze] und Schamlippen und dem anschließenden Zunähen der Vagina. Diese Form ist weltweit sehr selten.

MGM ist in der Ausführung und den Folgen genauso breit gefächert wie FGM. Das fängt an bei ebenfalls leichtem Einritzen der Genitalhaut, um etwas Blut fließen zu lassen, geht über das gewaltsame Entfernen von Teilen der Vorhaut oder der kompletten Vorhaut (die bei einem Erwachsenen ohne weiteres 15 Quadratzoll Fläche hat), über das Infibulieren und „Katheterisieren“ mittels Holzstäben oder Metallstäben, über Aufschlitzen und Spalten des kompletten Penis an der Unterseite bis hin zur kompletten Häutung des Genitalbereichs vom Anus bis zum Bauchnabel.

MGM wird in unseren Breitengraden immer als erstes mit der „rituellen jüdischen Beschneidung“ und dem islamischen Gegenstück assoziiert. Gerade in Deutschland denken viele Menschen aufgrund unserer Geschichte, dass man grundsätzlich nichts kritisieren darf, was irgendwas mit dem Judentum oder Islam zu tun hat. Daher gibt es in der Politik und vielen Menschenrechtsorganisationen eine Hemmschwelle, das Thema MGM an Kindern anzugehen und männlichen Kindern endlich denselben Schutz zu gewähren, den vielerorts weibliche Kinder schon genießen. Dabei hatte schon eine Umfrage Ende 2012 belegt, dass der Bundestag am 12.12.2012 mit seinem Beschneidungsgesetz nicht nur Gesetzesungleichheit für Mädchen und Jungen erlassen hat, sondern auch gegen die überwiegende Meinung der Bevölkerung entschieden hat.

Selbst bei 14- bis 16-jährigen Jungen besteht noch oft keine Entscheidungsfreiheit, ob sie ihre Genitalien freiwillig verstümmeln lassen wollen. Sie sind dem Druck ihrer Community ausgesetzt und haben oftmals keine Wahl, weil sie sonst in ihrer Gemeinde geächtet werden. Ein sehr trauriges Beispiel hierfür sind die Initiationsriten (ulwaluko) der AmaXhosa in Südafrika. Erschreckende Bilder, die die Realität der Folgen solcher Genitalverstümmelungen zeigen, sind hier in unserem Intaktivismus-Wiki zu sehen: <https://de.intactiwiki.org/wiki/Ulwaluko>

Aber selbst, wenn es bei allen Kindern aller Geschlechter nur um die harmloseste Variante, das rituelle Einritzen von Haut, ginge, wäre es immer noch eine nicht zulässige Körperverletzung, wenn auch nicht mit derart lebenslangen Folgen.

Es ist an der Zeit, dass UNICEF seine zurückhaltende Position bei Genitalverstümmelungen an Kindern männlichen Geschlechts ändert und gleiche Rechte für alle Kinder einfordert. Alles andere wäre Doppelmoral, die weder quantitativ noch qualitativ zu rechtfertigen ist. Solange die UNICEF noch immer die Genitalverstümmelung an Jungen als angebliche Präventionsmaßnahme gegen HIV/AIDS unterstützt (siehe <https://de.intactiwiki.org/wiki/UNICEF>), muss sie sich diesen Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen. Die Unwirksamkeit dieser Maßnahmen in Afrika und der Studien, auf denen sie basieren, ist längst belegt und die Menschen dort gehen selbst dagegen vor, weil sie nicht länger Opfer eines immer noch in den Köpfen der westlichen Welt verankerten kolonialistischen Denkens sein wollen. Die Kinder selbst haben keine Wahl, solange das oberste Kinderhilfswerk der Welt sie nicht schützt.

Für weitere Informationen oder Fragen stehe ich gern zur Verfügung.“

Natürlich bilde ich mir nicht ein, dass eine E-Mail von mir an UNICEF viel bewegen würde. Aber zumindest habe ich es deutlich ausgesprochen:

UNICEF betreibt in puncto Kinderrechte Doppelmoral. Das muss aufhören.

Ulf Dunkel (* 1962) ist ein deutscher Kaufmann, Politiker, Autor, Komponist und Intaktivist, der sich seit Sommer 2012 dafür einsetzt, dass die medizinisch nicht indizierte Beschneidung von Knaben rechtlich verboten wird. Er ist Vater von fünf Kindern und grüner Politiker.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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