Platz für ein Dream-Team?

Regierungskrise in der Türkei Nach dem Rücktritt von sieben Ministern steht das Land vor einem Generationswechsel

Mit dem Beginn der parlamentarischen Sommerpause ist die politische Führung in Ankara aus den Fugen geraten. Innerhalb weniger Tage traten sieben Minister der Ecevit-Regierung zurück, allesamt auch Mitglieder seiner Demokratischen Linkspartei, DSP. Bis zum Ende der vergangenen Woche haben mit den Ministern auch 46 Abgeordnete die bisher stärkste der drei Regierungsparteien verlassen. Damit ist die DSP mit 82 Sitzen nur noch dritte Kraft im türkischen Parlament, abgeschlagen hinter der extremen Nationalen Bewegungspartei (MHP) von Devlet Bahceli mit 127 Sitzen und der Partei des Wahren Weges (DYP) von Tansu Ciller mit 85 Sitzen.
Wegen Krankheit hat Bülent Ecevit seit Mai seine Amtsgeschäfte nicht mehr wahrgenommen. Die politische Arbeit stand still. Lauterwerdende Rufe nach vorgezogenen Neuwahlen prallten an dem 77-jährigen Regierungschef ab. Noch vor wenigen Tagen sagte er der Zeitung Milliyet, nur wenn die Regierungskoalition die Mehrheit verliere, sei er gezwungen, zurückzutreten.
Das Desaster ist komplett, seit auch noch Ismail Cem, der türkische Außenminister ausstieg. Wirtschaftsminister Kemal Dervis, der ebenfalls sein Amt verlassen wollte, wurde von Staatspräsident Necmet Sezer persönlich gebeten, zu bleiben. Der Grund für die Intervention von höchster Stelle liegt auf der Hand: Die türkische Wirtschaft befindet sich in ihrer schwersten Krise und wird nur mit Krediten des Internationalen Währungsfonds über Wasser gehalten. Dervis, ein früherer Beamter der Weltbank, gilt den internationalen Geldgebern als Garant. Unnachgiebig hat Dervis bisher die IWF-Privatisierungsprogramme in der trüben türkischen Klientelwirtschaft durchgesetzt.
Cem und Dervis genießen Anerkennung im Westen und bei der pro-europäisch gesinnten städtischen Elite. Ismail Cem, seit 1997 Außenminister, ist für den Beitritt zur Europäischen Union. Auch in die Zypernfrage brachte Cem Bewegung. Zusammen mit Özkan könnten beide zum "Dream-Team" des Jahres avancieren, wie es ein Zeitungskommentator ausdrückte. Für sie spricht, dass sie rein altersmäßig einer neuen politischen Generation angehören.
Mit der von Cem, Özkan und Dervis angekündigten Neugründung einer Mitte-Linkspartei könnte eine Alternative zu der sich auflösenden DSP von Bülent Ecevit geschaffen werden. Möglicherweise wäre das frischer Wind für die türkischen Finanzmärkte, an denen ausländische Investoren bisher so gut wie kein Interesse zeigten. Die westlichen Bündnispartner, die die Türkei im Einflussbereich von NATO, EU und IWF halten wollen, dürften mit Cem, Özkan und Dervis eine politische Führung finden, die westliche Interessen zu berücksichtigen weiß. Die Zeit drängt, noch vor Jahresende wird sich entscheiden, ob mit der Türkei EU-Aufnahmegespräche begonnen werden. Die kritischen Fragen, in denen die alte Regierungskoalition aus MHP, ANAP und DSP sich nicht einigen konnte, wie die Abschaffung der Todesstrafe und mehr Rechte für die Kurden, dürften für das "Dream-Team" kein Problem sein.
Damit könnte man sogar die Zustimmung der kurdischen Bevölkerung bei Neuwahlen bekommen, die sich von einem EU-Beitritt eine Erleichterung ihrer Lage verspricht. Bisher hat sich allein die Demokratiepartei des Volkes, die HADEP, für deren Rechte eingesetzt. In den kurdischen Provinzen der Südosttürkei hat die HADEP bei den letzten Wahlen bis zu 50 Prozent der Stimmen erhalten. Die HADEP ist weiterhin von einem möglichen Verbot bedroht, weil sie nach Ansicht der Staatsanwaltschaft eine Vorfeldorganisation der verbotenen früheren Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, sein soll. Die EU hat wiederholt das drohende Verbot mehrfach kritisiert. Bei der letzten Versammlung der Sozialistischen Internationale in Casablanca wurde die Partei als Vollmitglied aufgenommen.
Die konservative Landbevölkerung Anatoliens favorisiert traditionell andere Parteien. Die Bauern sehen sich, wie die Arbeiter und Kleinunternehmer, als Verlierer der IWF-Programme. Die Streichung staatlicher Subventionen hat Tausenden ihre Existenz geraubt. In den Städten tendieren sie einerseits zu der noch jungen, an einem modernen Islam orientierten Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter dem Vorsitz des populären ehemaligen Bürgermeisters von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan. Umfragen zufolge könnte die AKP bei vorgezogenen Neuwahlen gut 20 Prozent der Stimmen bekommen. Andererseits unterstützen Bauern und Arbeiter die extrem nationalistische MHP, derzeit stärkste Kraft im Parlament und in der Regierungskoalition. Bei Neuwahlen allerdings würde auch die MHP Federn lassen, da sie ihr zentrales Wahlversprechen nicht eingelöst hat: den zum Tode verurteilten Führer der ehemaligen PKK, Abdullah Öcalan, aufzuhängen.
Die einflussreichste Kraft in der Türkei, das Militär, verhält sich auffällig still. Doch dessen Stimme wird entscheidend sein. Die letzte mit großer Mehrheit gewählte Regierung von Necmettin Erbakan, einem konservativen Moslem, dessen Tugendpartei (RP) inzwischen verboten ist, wurde 1997 durch einen stillen Militärputsch aus dem Amt gehebelt.
Und noch eine Stimme ist entscheidend: die US-Administration hat großes Interesse an einer baldigen Lösung der Regierungskrise beim strategisch wichtigen Bündnispartner Türkei. Diese Woche reiste der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz zu Gesprächen mit dem Generalstab nach Ankara. Unabhängig von deren Ergebnis dürfte eines klar sein: Mit US-Unterstützung können in Zukunft nur diejenigen Politiker rechnen, die weder den Militäreinsatz in Afghanistan noch den angekündigten Krieg gegen den Irak in Frage stellen.

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