Der Zusammenprall der Kulturen findet an diesem Sonntag im Pankower Multiplex statt. Hier läuft seit einer Viertelstunde der Spielfilm Knallhart von Detlef Buck in einer Sondervorstellung für Berliner Lehrer und Lehrerinnen. Auf der Leinwand hat es den jugendlichen Protagonisten gerade nach Neukölln verschlagen, ein wenig ratlos steht er nun im multikulturellen Gewimmel. Schnitt: Ein sechsjähriger Knirps, vermutlich türkischer oder arabischer Herkunft, kommt ihm keck erhobenen Hauptes entgegen. Frontal lässt Buck den Kleinen auf den Betrachter zumarschieren, bis ihm der Jugendliche verdutzt ausweicht. Im Saal gibt es Szenenapplaus, eine Frau ruft laut: "Genau so ist es."
Ist es so? Womöglich erzählt die Szene mehr über das diffuse Gefühl der
e Gefühl der Bedrohung, mit dem Einwanderung in Deutschland wahrgenommen wird. Die Botschaft, nicht nur im Film, lautet: Wenn wir Zusammenstöße vermeiden wollen, müssen wir wachsam sein - und ihnen im Zweifelsfall besser aus dem Weg gehen. Die Unterscheidung zwischen "uns" und "den anderen" wird dabei ebenso vorausgesetzt wie legitimiert - mit dem fatalen Effekt, dass jede Differenz, die "Ausländer" betrifft, als potenziell bedrohliche wahrgenommen wird. So ließe sich der kraftmeiernde Auftritt des kleinen Jungen in Bucks Film gewiss auch anders deuten - als spielerisches Experimentieren mit den Ritualen hegemonialer Männlichkeit etwa. Im Kontext einer Debatte, in der "muslimische Jungs" mit ihren respektheischenden "Machoallüren" allerdings zum Integrationshindernis Nummer 1 avanciert sind - und im Kontext eines Filmes, der diesen Zusammenprall zwischen "uns" und "ihnen" bildgewaltig und mit zunehmender Brutalität ins Bild setzt - käme uns dergleichen nicht mehr in den Sinn. Unser Vorwissen bestimmt, was wir sehen und wie wir darauf reagieren: So wird das großspurige Gehabe eines Sechsjährigen plötzlich zum Ausweis einer fremden und bedrohlichen "Kultur".Tatsächlich ist "Kultur" in der öffentlichen Debatte um Integration mittlerweile zum wichtigsten Distinktionsmerkmal zwischen "uns" und "den anderen" geworden. Was in der Realität der Einwanderungsgesellschaft längst undurchsichtig geworden ist - gehört ein frisch eingebürgter Stuttgarter Gemüsehändler schon zu "uns" oder noch zu "denen"? Ist eine deutsche BWL-Studentin auch dann eine von "uns", wenn sie ein Kopftuch trägt und mit 20 noch keinen Freund hat? - muss im Diskurs fast zwanghaft immer wieder sauber getrennt werden. Dabei kommt das Statistische Bundesamt mittlerweile auf nicht weniger als zehn verschiedene Kategorien von "Menschen mit Migrationshintergrund": "Ausländer", "Spätaussiedler" und "Eingebürgerte" werden unterschieden, je nachdem, ob sie zur ersten, zweiten oder dritten Generation gehören. Dazu kommen "Deutsche mit einseitigem Migrationshintergrund", bei denen also nur ein Elternteil keine deutsche Staatsbürgerschaft hat sowie "Deutsche nach ius-solis-Regelung" - hier geborene Kinder, die sich spätestens mit 23 Jahren zwischen ihrer deutschen und ihrer nicht deutschen Staatsangehörigkeit entscheiden müssen. Alles in allem macht das über 15 Millionen Menschen - und damit knapp ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Tendenz steigend.Um dieser neuen Unübersichtlichkeit Herr zu werden, wird seit einiger Zeit immer häufiger die Kultur, wahlweise auch die Religion bemüht. Sie erlaubt uns eine Abgrenzung zwischen "uns" und "denen", die zugleich eindeutig und vage genug erscheint, um flexibel handhabbar zu sein. So heißt es im "Positionspapier von CSU und CDU zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung": "Integration bedeutet ... mehr als die deutsche Sprache zu beherrschen und unsere Rechtsordnung anzuerkennen." Integration, so heißt es weiter, umfasse nämlich "auch die Toleranz und die Rücksichtnahme auf die Normen und Gepflogenheiten, denen sich die einheimische Bevölkerung verpflichtet fühlt". Diese mögen nun allerdings in einem schwäbischen Dorf schon deutlich andere sein als in der benachbarten Metropole - weshalb das Positionspapier jetzt die "Kultur" in Stellung bringt: "Dies bedeutete, dass die Werteordnung unserer christlichabendländischen[sic!] Kultur, die vom Christentum, antiker Philosophie, Humanismus, römischen Recht und der Aufklärung geprägt wurde, akzeptiert wird." Damit aber sind die Anforderungen nun endgültig so diffus und die Latte, insbesondere für Menschen aus nicht europäischen und/oder nicht christlichen Ländern, so hoch gelegt, dass es ihnen im Zweifelfall unmöglich sein dürfte, die eigene Integriertheit schlüssig zu belegen. Einbürgerung - die nach christdemokratischer Lesart eine abgeschlossene Integration zur Voraussetzung hat - wird so zum Gnadenakt, der jederzeit verweigert werden kann.Das betrifft insbesondere die größte in Deutschland lebende Minderheit: die Menschen türkischer Herkunft und ihre Nachkommen. Während "wir" quasi per Geburt die richtige "Kultur" haben, haben "sie" nämlich die falsche. Die Soziologin Necla Kelek, deren Bücher hierzulande die Bestseller-Listen stürmen, wird nicht müde die "türkisch-muslimische Kultur" in den düstersten Farben zu malen. Hatte sie im ersten Buch die schwierige, manchmal verzweifelte Situation sogenannter Importbräute ins Zentrum ihrer Betrachtungen gestellt, sind es diesmal "die verlorenen Söhne": junge Männer, die an der Unvereinbarkeit zwischen patriarchalen Ehrkonzepten und archaischen Clanregeln einerseits und dem demokratischen Rechtsstaat scheitern. Die einen wie die anderen gibt es, und ohne Zweifel stellen sie für die Einwanderungsgesellschaft eine echte Herausforderung dar. Doch ob sich an ihnen wirklich die "kulturelle Dimension des Muslim-Seins" herausarbeiten lässt, wie Kelek immer wieder behauptet, ist mehr als fraglich. Und zwar nicht nur weil entsprechende empirische Studien fehlen, sondern weil der Kulturbegriff, den Kelek und die Verfechter einer deutschen Leitkultur zugrunde legen, längst selbst zutiefst fragwürdig geworden ist. Der Gebrauch von "Kultur" als geteilter Bestand von Gruppen, hat sich in der Ethnologie weitgehend erledigt, wie der Ethnologe und Philosoph Martin Sökefeld schreibt: Zu groß ist das Bewusstsein, dass Kultur von Menschen in ihrer sozialen Praxis geschaffen wird, dass sie daher Konflikten unterliegt und sich permanent verändert. Deshalb haben die Angehörigen einer Gruppe kaum durchgängig ein und dieselbe Kultur - auch wenn genau das behauptet wird. So wenig die autochthone Bevölkerung also samt und sonders auf die Werte von Christentum und Aufklärung verpflichtet werden kann, so wenig unterliegen Migranten und Migrantinnen einer eigenen "Kultur", die ihr Denken und Handeln bestimmt.Das belegen auch die Ergebnisse einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, für die kürzlich über dreihundert türkischstämmige Kopftuchträgerinnen zu ihren Wertvorstellungen befragt wurden. Nach dem Bild, das in deutschen Medien gezeichnet wird, war von den überwiegend streng religiösen Frauen ein klares Bekenntnis zum Islam, gegen den demokratischen Rechtsstaat und insbesondere gegen ein egalitäres Geschlechterverhältnis zu erwarten - mit dieser Begründung jedenfalls wird Kopftuchträgerinnen derzeit in acht von sechzehn Bundesländern ohne Einzelfallprüfung der Zugang zum öffentlichen Schuldienst verweigert.In Wirklichkeit sieht die Sache, wie die Ergebnisse der Studie belegen, komplizierter aus: Zwar hielten tatsächlich knapp neunzig Prozent der Befragten ihre Religion für überlegen und jede Zehnte plädierte sogar für eine Regierung "von Gottes Gnaden". Neunzig Prozent der befragten Kopftuchträgerinnen sprachen sich jedoch für eine demokratisch gewählte Regierung aus und mehr als zwei Drittel waren der Ansicht, alle Menschen seien, unabhängig von ihrem Glauben, vor Gott gleich. Noch verwirrender wurde es, als die Frauen nach ihren persönlichen Zielen befragt wurden: So gaben zwar 95 Prozent als wichtiges Lebensziel an, ihren Glauben leben zu wollen. Die meisten von ihnen - fast 80 Prozent und damit ungefähr genauso viele unter den kopftuchlosen deutschen Frauen - sehen es jedoch als ebenso wichtig an, "möglichst frei und unabhängig zu sein". Entsprechend wenig traditionell auch ihre Voten zum Geschlechterverhältnis: Der Aussage, dass es "in einer Ehe oder Partnerschaft heute wichtig ist, dass sich auch die Frau ihre beruflichen Wünsche erfüllen kann", stimmen 94 Prozent zu, nur ein knappes Viertel der Kopftuchträgerinnen hält es für richtig, dass bei Meinungsverschiedenheiten in der Ehe der Mann das letzte Wort behält.Abgesehen davon, dass die Ergebnisse es kaum rechtfertigen, einer ganzen Gruppe von Einwanderinnen pauschal die Erlaubnis zum Unterrichten an öffentlichen Schulen zu verweigern - wenn offenbar selbst streng religiöse Muslimas in Deutschland mit einem Mix aus traditionellen und modernen "westlichen" Werten leben, ist die Idee einer kulturellen Differenz zwischen "uns" und "denen" dann nicht ehrlicherweise als das zu verabschieden, was sie ist: eine Ideologie, die uns schadet? Weil sie Integration erschwert und den sozialen Frieden in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland gefährdet?Tatsächlich geht es nämlich um viel. Das Reden über "Kultur" ändert ja nichts am sozialen und politischen Machtgefälle zwischen Mehrheitsgesellschaft und Einwanderern, das in der Tat gravierend ist und dringend angegangen werden muss. So brauchen wir, um nur die beiden wichtigsten Punkte zu nennen, endlich ein Schulsystem, das Kinder von Geringqualifizierten nicht länger eklatant benachteiligt, und politische Mitbestimmungsrechte für alle, die hier dauerhaft leben.Die kulturelle Aufladung von Differenz ist auch deshalb kontraproduktiv, weil sie nicht ohne Folgen für das Selbstverständnis der Betroffenen bleibt. Kurz gesagt: Machos, auch solche türkischer oder arabischer Herkunft, fallen nicht vom Himmel. Wer aber einem Sechsjährigen ausweicht, der den Macho mimt, erntet mit hoher Wahrscheinlichkeit: einen Macho.
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