Tel Aviv im Winter. Wer einen nachmittäglichen Einkaufsbummel über die belebte Ben-Yehuda-Street macht, fühlt sich dem Nahost-Konflikt so fern wie in Amsterdam oder Barcelona. Die Cafés sind voll besetzt, auf den Bürgersteigen vor ihren Geschäften genießen jugendlich gekleidete Verkäuferinnen die letzten Sonnenstrahlen. Nicht einmal die sonst überall präsenten SoldatInnen sind hier zu sehen: junge RekrutInnen, die gerade die Schule abgeschlossen haben und ihre Gewehre so selbstverständlich auf dem Rücken tragen wie ihre europäischen Altersgenossen ihre Eastpacks. Vom Mittelmeer sorgt eine sanfte Brise für leichte Abkühlung.
Noch nicht lange ist es her, dass sich auf dem nahe gelegenen Carmel-Markt ein junger Selbstmo
r Selbstmordattentäter in die Luft sprengte und vier Menschen mit in den Tod riss. Stundenlang flackerten danach die Fernsehbilder von Toten und Verletzten über die Bildschirme. "Wir leben mit diesen Anschlägen, wir sind traumatisiert", sagt Anita Haviv, die 1979 als 19-Jährige aus Wien nach Israel kam, weil sie nicht länger in dem Land leben wollte, in dem ihr Vater im KZ gesessen hatte. "Die Besatzung ist schlecht für Israel", fügt sie hinzu. Sie selbst ist für einen palästinensischen Staat, würde Jerusalem am liebsten teilen und die Siedlungen zurückgeben, um die Gewalteskalation im Land zu beenden. Ihr ältester Sohn ist gerade bei der Armee - "zum Glück nicht bei einer Kampfeinheit", ihre Tochter wird ihren Militärdienst in zwei Jahren ableisten. Wie sieht sie ihr Land heute? Sie zitiert den Schriftsteller Amos Oz: "Israel gefällt mir nicht, aber ich liebe es."Bekenntnisse wie diese sind unter säkularen Jüdinnen weit verbreitet. Ihr aufgeklärter Patriotismus gilt dabei ebenso dem jüdischen Staat, der seit seiner Gründung im Jahr 1949 jedem Juden, jeder Jüdin weltweit ein so genanntes "Rückkehrrecht" nach Israel und damit Zuflucht vor antisemitischen Verfolgungen garantiert, wie der multikulturellen Gesellschaft, die sich im Laufe von mehr als einem halben Jahrhundert daraus entwickelt hat: Männer und Frauen aus rund 100 Nationen mit mehr als 60 Herkunftssprachen leben heute in Israel. Und - anders als in den arabischen Nachbarstaaten und den Herkunftsländern vieler Töchter aus jüdisch-orientalischen Familien - haben Frauen in Israel weitgehend gleiche Rechte und sind hoch qualifiziert: Fast 40 Prozent von ihnen haben eine Schulbildung von mehr als zwölf Jahren, die Quote der weiblichen Erwerbstätigen liegt - ausgenommen bei den ultraorthodoxen und den arabischen Frauen - über dem europäischen Durchschnitt.Dr. Esther Herzog, israelische Feministin und Leiterin des Instituts für Sozialwissenschaft am jüdisch-arabischen Beit Berl College, sieht das Erreichte gleichwohl kritisch: "Frauen waren in Israel nie gleichgestellt, in Pionierzeiten so wenig wie heute." Zum Beleg verweist sie auf die fehlende Zivilehe, die es israelischen Frauen bis heute unmöglich macht, die Scheidung einzureichen. Auch aus den Führungsbereichen in Armee und Wirtschaft seien Frauen de facto ausgeschlossen, in der Knesset beträgt ihr Anteil seit den letzten Wahlen gerade einmal 15 Prozent.Das ist vor allem eine Folge der Durchmilitarisierung der israelischen Gesellschaft. Wer in Israel etwas werden will - sei es in der Politik oder in der Wirtschaft - muss seine Führungsqualitäten zuvor durch eine militärische Karriere unter Beweis stellen. "Der ideale israelische Staatsbürger ist der Krieger", bestätigt Orna Sassoon-Levy, die ihre Doktorarbeit über die Konstruktion von Gender-Identität in der israelischen Armee geschrieben hat. Da der Militärdienst für Frauen ein Jahr kürzer ist als für Männer und sie nur in Ausnahmefällen zum jährlichen Reservedienst eingezogen werden, sei es für das Militär nicht attraktiv, in Frauen zu investieren. Gleichzeitig würden überholte Geschlechterstereotype wie die mangelnde Stressresistenz von Frauen in der Armee festgeschrieben, um sie dann als Begründung für den Ausschluss von Frauen heranzuziehen. Das Ergebnis: 70 Prozent der Rekrutinnen innerhalb des Militärs arbeiten in typischen Frauenberufen - als Sekretärinnen, Sozialarbeiterinnen und Ausbilderinnen. "Gleichheit in der Armee ist eine Illusion", so Sassoon-Levy, "aber wenn Frauen nicht mehr in der Armee wären, wären sie komplett aus der israelischen Gesellschaft ausgeschlossen." Ein Ausweg aus dem Dilemma? "The only solution is peace" - "die einzige Lösung ist Frieden".Bis heute sind 70 bis 80 Prozent derjenigen, die sich auf israelischer Seite für Frieden und ein Ende der Besatzung einsetzen, Frauen. Doch der Versuch, der kalten Logik der Militärs einen israelisch-palästinensischen Frauen-Friedens-Dialog entgegenzusetzen, wird heute von vielen - auch auf palästinensischer Seite - als gescheitert angesehen: Zu tief sind die Wunden, die die Fortdauer der israelischen Besatzung, die palästinensischen Selbstmordattentate und die militärischen Vergeltungsschläge gerissen haben. Zu unterschiedlich sind die Lebensbedingungen auf beiden Seiten der Grenze. Fast die Hälfte der Palästinenser lebt infolge der Abriegelung der besetzten Gebiete durch die israelischen Sicherheitskräfte in Armut - mehr als doppelt so viele wie vor Beginn der Al-Aksa-Intifada im September 2000. Im selben Zeitraum starben nach Angaben des UN-Büros für die Koordination humanitärer Angelegenheiten (OCHA) 3.457 Palästinenser und 989 Israelis im Konflikt. Die Vision eines gemeinsamen Staates ist damit in weite Ferne gerückt, liberale Positionen haben derzeit kaum noch eine Chance. 84 Prozent der Israelis sprechen sich in Umfragen für den Sicherheitszaun aus, der die Westbank vom israelischen Kernland trennt und dort, wo er direkt an israelische Siedlungen angrenzt, eine sieben Meter hohe Betonmauer ist, die palästinensische Kinder von ihren Schulen, Männer und Frauen von ihren Arbeitsplätzen, Alte von ihren Friedhöfen trennt.Es geht nicht mehr ums große Ganze, sondern um kleine, pragmatische Schritte. Die Ehrenamtlichen der israelischen Frauenorganisation Machsom Watch sind dafür ein gutes Beispiel. Ihr Ziel: durch ihre Präsenz an den Checkpoints die Zahl der Menschenrechtsverletzungen, die Schikanen, Demütigungen und oft willkürlichen Passierverbote der israelischen Grenzpolizisten einzudämmen und zu dokumentieren. "Über den israelisch-palästinensischen Konflikt, über die Armee, selbst über den Grenzzaun haben wir völlig unterschiedliche Meinungen", gesteht Ronit Selat, Online-Redakteurin der Jerusalem Post und eine von 500 Machsom-Watch-Aktivistinnen. "Wir versuchen durch unsere Arbeit, Einzelnen zu helfen. Und indem wir als Frauen an einem männlich geprägten Ort stehen, verändern wir die Situation, selbst wenn wir nicht eingreifen: Wir erinnern die Soldaten an ihre Mütter, ihre Großmütter, daran, dass es etwas außerhalb dieses Checkpoints gibt." Ein Leben jenseits des Nahostkonflikts.
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