Man stelle sich einmal vor, ein Fünftel aller Männer in Deutschland müsste in zu großen Schuhen herumlaufen. Es gäbe Schuhe einfach nur ab - sagen wir - Größe 44, weil kleinere Schuhe schlicht nicht produziert würden. Eine absurde Vorstellung?
Nicht, wenn es um Kondome geht. Das deutsche Standardkondom, so ermittelte Pro Familia, hat eine Länge von 18 und einen Durchmesser von 3,31 Zentimetern. Den deutschen Penis hingegen gibt es nicht. Bei einer Studie, die Pro Familia 2001 in Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik Essen durchführen ließ, wurden die Penisse von 143 Männern im Alter von 18 bis 19 beziehungsweise 40 bis 68 Jahren vermessen. Ergebnis: In erigiertem Zustand ergab sich ein Längenspektrum von 10 bis 19 Zentimetern (Durchschnitt: 14,48 cm), während der Durchmesser zwischen drei und fünf Zentimeter variierte (Durchschnitt: 3,95 Zentimeter). "19,8 Prozent der jungen Männer und eine entsprechende Zahl der Kontrollgruppe würden unseres Erachtens bei der Verwendung eines Standardkondoms aufgrund der gemessenen Querschnitte Schwierigkeiten mit dem sicheren Halt bekommen", urteilten die Forscher. Und weiter: "Wir gehen davon aus, dass Jugendliche (...) je nach Körperwachstumsstand und Zeitpunkt ihrer ersten Kondombenutzung ein kleineres Kondom benötigen, da ihre Körpermaße kleiner sind als mit 18 Jahren."
Dreieinhalb Jahre sind seit der Studie vergangen. Zeit für eine Spurensuche.
Bei dem für seine unkonventionellen Werbeslogans viel gerühmten Kölner Präservativ-Hersteller Condomi hält man sich auf Anfrage äußerst bedeckt. Zwar sind die Ergebnisse der nordrhein-westfälischen Studie hier seit langem bekannt. Doch zum Thema "kleineres Kondom" möchte die ansonsten aufgeschlossene Pressesprecherin nicht gern Stellung beziehen. Sicher, man prüfe alle möglichen Entwicklungen, die Herstellung eines speziellen Jungenkondoms sei aber derzeit "definitiv kein Thema". Deutlich lockerer wird sie erst, als die Rede auf das extra große condomi XXL (Werbeslogan: "Für alle, die hoch hinaus wollen. Denn manchmal entscheidet doch die Länge") kommt: "Das haben wir schon sehr, sehr lange." Seit 1996, um genau zu sein.
Auch beim Branchenführer Mapa (Fromms, Blausiegel, Billy Boy) gibt man sich vorsichtig. Die Frage nach einem kleineren Kondom beantwortet Pressesprecherin Tanja Klein mit einem klaren "Jein." Das Blausiegel Contur plus sei "kein kleineres Kondom", betont sie, obgleich es, wie sie später schreibt, mit seinem "eingearbeiteten Latexring unterhalb der Eichel und seiner taillierten Form einen besonders sicheren Sitz" biete "und somit auch eine hilfreiche Alternative für Leute, die ein kleineres Kondom benötigen". Das könne man aber nicht auf die Packung draufschreiben, fügt sie später am Telefon hinzu. Denn kleine Kondome hätten ein Vermarktungsproblem: "Weil niemand an der Kasse offen legen möchte, dass er ein kleineres Kondom braucht."
Um es gleich vorwegzunehmen: Auch die Deutsche Aidshilfe hat kein kleineres Kondom im Programm. Nicht mal eines, das zwar kleiner ist, aber nicht so heißen darf. Der Leiter der Berliner Aidshilfe streitet sogar ab, dass es diesbezüglich überhaupt einen Bedarf gibt. In 20 Jahren haben weder er noch seine MitarbeiterInnen jemals gehört, dass sich ein Mann über ein zu großes Kondom beklagte. Also, alles halb so wild?
"Auch unter Schwulen", sagt dagegen Armin Fichtner vom Vertrieb der Deutschen Aidshilfe, "ist das ein Tabu-Thema." Und dann zählt er auf, wie verbreitet die Idee ist, dass nur ein großer Penis ein guter Penis ist. Das Mallorca-Lied fällt ihm ein mit seinem eindeutig unzweideutigen Refrain: "Das sind doch keine 20 Zentimeter, lieber Peter." Die Sprüche in der Szene, wonach, wer eine kleine Nase hat, auch einen kleinen Penis habe. "Und wenn man jemanden aufreißt und der hat ein kleines Glied, dann ist bei vielen der Sexus runter", erzählt er und betont, dass er seinerseits alle, die bei ihm anrufen und nach kleineren Kondomen fragen, ermutigt und sich für ihr offenes Bekenntnis bedankt. Helfen kann er ihnen leider nicht. Denn, wie gesagt, auch die Deutsche Aidshilfe hat keine kleinen Größen im Programm. Vielleicht mal beim Deutschen Institut für Normung nachfragen, warum keine passenden Kondome für alle produziert werden?
Dort erweist man sich als unschuldig: Zum einen sei die Anwendung der DIN EN ISO 4074 "Kondome aus Naturkautschuklatex Anforderungen und Prüfverfahren" freiwillig, zum anderen schreibe die DIN-Norm zwar die Länge (Minimum: 16 Zentimeter), nicht aber die Breite eines Kondoms fest. Die vom Hersteller gewählte Nennbreite müsse allerdings auf der Verbraucherpackung angegeben werden "und darf dann laut Norm bei der Chargenprüfung um nicht mehr als plus/ minus zwei Millimeter abweichen". Im Klartext: Die Hersteller entscheiden selbst, wie groß die Kondome sind, die sie auf den Markt bringen.
Martin Gnielka, Sexualpädagoge bei der Pro Familia Köln, die die Essener Studie mitinitiiert hat, weiß, wie schwierig es für Jugendliche ist, das passende Kondom zu finden. Zudem wirft er den Herstellern vor, insbesondere die extragroßen Kondome als besonders gefühlsecht zu vermarkten und Jugendliche so zum Kauf zu großer Kondome zu verleiten. Trotzdem ist er froh, dass mit der Essener Penisstudie konkrete Zahlen auf dem Tisch liegen. Denn in der sexualpädagogischen Beratung, wo die Jungen vorab anonym ihre Fragen stellen können, sei das die mit Abstand am häufigsten gestellte Frage: "Wie groß ist ein Penis?" "Früher wurden die Jungs oft abgewimmelt. Es hieß: Macht euch nicht so viele Gedanken darüber", sagt Gnielka. Und verweist auf den heute noch beliebten Aufklärungsfilm Sex - eine Gebrauchsanweisung, in dem behauptet wird, in erigiertem Zustand seien ohnehin alle Penisse gleich groß. "Das ist eine pädagogische Lüge", kritisiert er und fügt hinzu: "Für Jungs ist die Penisgröße wichtig. Das ist ein zentrales Männlichkeitssymbol und die diesbezügliche Verunsicherung ist groß."
Die Pornografie dürfte ihren Teil dazu beitragen. Denn obwohl ein Großteil der Jungs, die in Schulklassen zu Gnielka in die Beratung kommen, Erfahrungen mit Pornos hat, machen sich nur die wenigsten klar, dass die Darsteller speziell auf ihre großen Penisse hin gecastet werden. Dazu kommt die optische Verkürzung, die - wie Sexualpädagogen nicht müde werden zu betonen - den eigenen, von oben betrachteten Penis immer kleiner wirken lässt als den fremden. Ist das womöglich die Wurzel alles männlichen Konkurrenzgehabes: dass der Schwanz des Anderen immer größer zu sein scheint als der eigene?
Jedenfalls nehmen Männer im realen Leben durchaus einiges in Kauf, um zu einem größeren Penis zu kommen. Wer die entsprechenden Angebote im Internet durchblättert, fühlt sich leicht ins dunkelste Mittelalter zurückversetzt: Da wird gepumpt, gedehnt und mit Gewichten beschwert, geschröpft, massiert und in die Länge gezogen. Und wenn alles nichts hilft: zum Skalpell gegriffen. 64.000 Seiten allein aus Deutschland listet die Suchmaschine Google zum Stichwort "Penisvergrößerung" auf.
Auch für die Psychologie war die Penisgröße lange kein Thema. Schon Sigmund Freud, der dem Kastrationskomplex des kleinen Jungen - angeblich ausgelöst durch den Anblick der penislosen Mutter - in seiner Theorie bekanntlich einen zentralen Stellenwert in der männlichen Identitätsentwicklung eingeräumt hat, bekam den Blick nicht frei für den Jungen, der erstmals den fremden - väterlichen? - Penis wahrnimmt. Dabei dürfte, nimmt man Freud ernst, der festgestellte Größenunterschied erheblichen Einfluss auf die männliche Identitätsbildung haben. Schließlich ist der Penis eines kleinen Jungen ungewöhnlich klein: Während die Körperlänge sich nach der Geburt nicht einmal vervierfacht, wächst der Penis im Laufe der Pubertät durchaus auf das Zehnfache seiner ursprünglichen Größe heran.
Vielleicht sind uniformgroße Präser auch einfach ein sehr deutsches Problem. In den USA jedenfalls gibt es Kondome in unterschiedlichen Größen, Weiten und Längen, mit exakten Größenangaben, gut leserlich auf der Packung vermerkt. "Size matters", wie die Amerikaner sagen: Die Größe spielt eine Rolle. Bei Kondomen wie bei Schuhen gilt dort: Sie taugen wenig, wenn sie nicht passen.
Wie vielen Jugendlichen das deutsche Standardkondom zu groß ist, kann zurzeit nicht ermittelt werden. Fest steht, dass für Jungen das Kondom das einzige von ihnen anwendbare Verhütungsmittel ist, das zudem vor sexuell übertragbaren Krankheiten schützt. Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist das Kondom bei Jugendlichen zudem das meist verwendete Verhütungsmittel: 2001 benutzten es 65 Prozent der Jungen beim ersten heterosexuellen Sex.
Gleichzeitig ist die Zahl der Jungen, die bereits früh Sex haben, gestiegen: Hatten 1980 gerade vier Prozent der Jungen ihr erstes Mal mit 15 schon hinter sich, war es 2001 bereits fast jeder Fünfte.
Wie viele ungewollte Schwangerschaften auf ein zu großes Kondom zurückzuführen sind, ermittelt die Pro Familia derzeit anhand einer Studie. Die Ergebnisse sollen Ende des Jahres ausgewertet und publiziert werden.
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