Das Schicksal der westdeutschen Frauenbewegung ist eng mit dem Begriff Gewalt verknüpft. "Gewalt hat ein Geschlecht", war die Erkenntnis, und indem sie "Männergewalt" entlarvte, gelang der Bewegung ein doppelter Coup: Sie konnte geschlechtsspezifische Gewalterfahrung theoretisch fassen und bewirkte damit vor allem in der Frauenhausbewegung der siebziger und achtziger Jahre einen wichtigen Mobilisierungs- und Solidarisierungseffekt. Zugleich lieferte sie ein einprägsames Paradigma für das, was in den vielfältigen anderen Formen weiblicher Unterdrückung, Ausbeutung und Benachteiligung verdeckt oder eigentümlich unscharf blieb, dass nämlich Männer Täter, Frauen Opfer sind.
Da half es wenig, dass Feministinnen wie Frigga Haug schon früh gegen diese Verallgemeinerung Stellung bezogen: "Die Annahme, dass die Frauen ausschließlich Opfer sind, schweigt darüber, wie sie aus der Position derer, über die gehandelt wird, in die Position von Handelnden kommen können", formulierte sie im Sommer 1980 in ihrem Vortrag Täter oder Opfer?, der über Jahre hinweg immer wieder diskutiert wurde. Ende der achtziger Jahre war es vor allem Christina Thürmer-Rohr, die der Generalisierung des Opferbegriffs ihren spezifischen Begriff der "weiblichen Mittäterschaft" als Teilhabende und Leidende des Patriarchats entgegenstellte. Konkrete Studien zu Täterinnen im Nationalsozialismus sowie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Rassismus und Ethnozentrismus machten im Laufe der neunziger Jahre deutlich, dass die generalisierende Gleichsetzung der Frau als Opfer vor allem eines ist: eine patriarchale Zuschreibung, die der Realität von Frauen nur bedingt entspricht und sie der Verantwortung für ihr Handeln auch dort nicht entbinden kann, wo sie der eigenen Befreiung im Wege steht.
Nicht zufällig war den praktisch engagierten Frauen jedoch gerade in diesem Bereich ein erstaunlicher politischer Erfolg beschieden. Ohne die immensen Anstrengungen klein- oder die teils miserable Ausstattung der betroffenen Stellen schön reden zu wollen - das öffentliche Netz an Frauenhäusern, Notrufen und Beratungsstellen, das in relativ kurzer Zeit geknüpft und politisch durchgesetzt wurde, ist auch aus heutiger Sicht beachtlich. Dass Vergewaltigung nach dem bürgerlichen Gesetzbuch mittlerweile innerhalb der Ehe strafbar ist und prügelnde Ehemänner demnächst vor die Tür ihrer eigenen Wohnung gesetzt werden können, sind ebenfalls unbestreitbare Erfolge, von denen wir auf anderen, scheinbar weit weniger brisanten Gebieten wie der Einführung der Ganztagsschule weit entfernt sind.
Einiges spricht deshalb dafür, dass die gesellschaftliche Bereitschaft, Frauen das Feld "Männergewalt" - wenn auch zu selbstausbeuterischen Konditionen - weitgehend eigenverantwortlich beackern zu lassen, sich genau jenem Zusammenhang verdankt, der innerhalb der Frauenforschung schon früh in die Kritik geriet: Handelt es sich bei der geschlechtsspezifischen Zuschreibung von Opfer- und Täterrolle nämlich um eine Konstruktion, die der Verfestigung der herrschenden Verhältnisse dient, so ist nachvollziehbar, warum Frauen gerade der Opfer-Bereich so bedenkenlos überlassen werden konnte - zumal das Soziale ihnen traditionell ja ohnehin zufällt.
Aus feministischer Perspektive ist deshalb erst einmal uneingeschränkt zu begrüßen, wenn Männer - wie jüngst auf einer Tagung der Heinrich Böll Stiftung unter dem Titel "Mann oder Opfer?" - anfangen, eigene Gewalterfahrungen zu thematisieren: Sie stellen damit einen zentralen Konsens des herrschenden Geschlechterverhältnisses in Frage und tragen damit im besten Fall langfristig zu einer veränderten Theorie und Praxis von Männern und Frauen bei.
So kritisierte der Männerfoscher Alexander Bentheim zu Recht, dass selbst in einer Kampagne des Bundesfrauenministeriums die Gewalterfahrungen von Jungen relativiert und weniger ernst genommen werden als die der Mädchen (vgl. Interview). Zumal Jungen nicht nur als Kinder stärker von Gewalt und Misshandlung bedroht sind: Zwei Drittel aller Körperverletzungsdelikte und 70 Prozent aller Gewaltverbrechen - mit Ausnahme von Sexualverbrechen - werden, wie der Viktimologe Gerd Ferdinand Kirchhoff deutlich machte, an Männern verübt, die somit doppelt so häufig wie Frauen von massiven "Invasionen ins Selbst" betroffen seien. Dabei sei nicht nur die Verletzung als solche das Problem, sondern auch der Verlust an persönlicher Sicherheit, der mit jedem Angriff einhergehe. "Viktimisationen lehren uns, dass wir mit Fiktionen leben", erläuterte der Opferforscher den anwesenden Frauen und Männern und verwies dabei auf die Gefahr einer sekundären Gewalt, die darin bestehe, den Betroffenen für das, was ihm zugestoßen ist, selbst verantwortlich zu machen.
Dass hier durchaus mit zweierlei Maß gemessen wird, machte der Männerarbeiter Hans-Joachim Lenz in seinem Vortrag deutlich. Während misshandelte Jungen, überfallene Ausländer und verprügelte Schwule mit gängigen, auch weiblichen Vorstellung von Opfern problemlos zusammengingen, sorgte die Erwähnung von Gefängnis-Insassen, die der Gewalt von Mithäftlingen ausgesetzt sind, für einen kurzen Moment der Irritation: Können Täter Opfer sein? Und was ist mit den Soldaten, die sich schließlich freiwillig fürs Töten und zum Heldentod gemeldet haben?
Männerspezifische Opfer-Erfahrungen gibt es also durchaus, und das betrifft nicht nur ihre Leugnung und Verdrängung durch Andere. Auch Männer selbst sind schließlich Teil der Gesellschaft und glauben an den Mythos ihrer eigenen Unverletzbarkeit. Er müsse selbst, sagte ein Teilnehmer des Workshops anschließend, Bilder, die er im Kopf habe, übersetzen: "Wenn ich dann statt einem Jungen ein Mädchen und statt der Mutter den Vater einsetze, ist sofort klar: Das ist sexueller Missbrauch", berichtete er. "Es ist schwierig, eine Sprache zu finden für Übergriffe, die Liebe genannt werden", beschrieb ein anderer Teilnehmer seine Erfahrungen mit den körperlichen Zudringlichkeiten, die ihm seine Mutter, als Fürsorge und Pflege getarnt, immer wieder aufgedrängt hatte - eine Erfahrung, die andere Teilnehmer offenbar teilten.
Dass Frauen jedoch auch vor massiver sexueller Gewalt an Kindern nicht zurückschrecken, hatte am ersten Abend bereits die Sozialpädagogin Hilke Gerber in ihrem Referat zum Thema beleuchtet. Auf einer - allerdings noch recht schmalen - Datenbasis zum Thema widersprach sie dem gängigen Klischee, Frauen seien als Missbraucherinnen harmlos und meist bloße Mittäterinnen. Dennoch sei sie bei ihrer Suche nach Betroffenen für ihre Interview-Studie besonders bei westdeutschen Fachfrauen auf starke Abwehr gestoßen, berichtete Gerber, die den Anteil weiblicher Täterinnen je nach Quelle auf "zwischen 1,7 und 20 Prozent" bezifferte.
Mindestens ebenso aufschlussreich wie die Tabus, die auf dieser Tagung mutig und offen thematisiert wurden, war deshalb, was nur am Rande zur Sprache kam: Eine Sprache für "männliche Gewalterfahrung" und eine für "Frauengewalt (weibliche Gewalt)" müsse gefunden werden, war am Ende der Tagung an einem der Clipboards zu lesen. Das patriarchale Skandalon, dass die Gewalt auch an männlichen Opfern mehrheitlich von anderen Männern ausgeht, blieb so weitgehend ausgespart. Wollen Männer mit ihren eigenen Opfer-Erfahrungen aber endlich öffentlich ernst genommen werden, kommen sie an diesem - auch biographisch - zentralen Kapitel ihres Mann-Seins künftig kaum mehr vorbei. Der Hinweis, Männergewalt sei von feministischer Seite ja schon ausgiebig thematisiert worden und müsse deshalb nicht erneut zum Gegenstand der Analyse gemacht werden, greift demgegenüber radikal zu kurz: Anstatt diese Kritik zuzuspitzen und zu erweitern, erschöpft sich männliche Betroffenheit sonst in ihrer bloßen Umkehr.
Und die Frauen? Können sie ihrerseits versuchen, sich offen von ihrem vermeintlichen Monopol an Opfer-Erfahrungen zu verabschieden? Da die nachfolgenden (post-)feministischen Generationen ohnehin wenig Interesse an Opfermythen zeigen und die Männer - zumindest theoretisch - bereitstehen, ihren Part zu übernehmen, wäre der Zeitpunkt gut gewählt.
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