Wir sind der Meinung, dass an einen Wiederaufbau Deutschlands nicht zu denken ist, wenn nicht die Frauenhilfe dabei eine Rolle spielt. ... Wir fordern, dass das Parlament in Bonn uns Frauen die Stellung in der Verfassung gibt, die uns aufgrund der ökonomischen Verhältnisse zusteht. Wir erwarten, dass der von Ihnen gefasste Beschluss revidiert wird." So hieß es in einem Brief, den der Frauenausschuss der Deutschen Dunlop Gummi Comp-A.G. in Hanau am 13. Januar 1949 an die Mitglieder des Parlamentarischen Rates sandte. Es war nicht der einzige, den das Gremium, das 1948 mit der Ausarbeitung einer Verfassung für Westdeutschland beauftragt war, erreichte. Nachdem die Mitglieder des Hauptausschusses am 3. Dezember 1948 gegen die Aufnahme der Formulierung "Frauen und Männ
;nner sind gleichberechtigt" ins Grundgesetz gestimmt hatten, hagelte es Protestbriefe. Aus allen westdeutschen Landtagen (mit Ausnahme Bayerns) schickten Frauen fraktionsübergreifend Eingaben. 40.000 Metallgewerkschafterinnen, konservative Landfrauen, Gemeindevertreterinnen und die Mitglieder zahlreicher Frauenausschüsse machten ihrem Unmut Luft. Entfacht hat diesen Aufruhr Elisabeth Selbert. Die Juristin und SPD-Politikerin hatte bereits 1946 die Hessische Verfassung mit ausgearbeitet und war als eine von vier Frauen für den Parlamentarischen Rat nominiert worden. Als "Staatsrechtlerin aus Passion" wollte sie sich dort für eine strikte Gewaltenteilung, den Schutz der Staatsbürger gegen Übergriffe des Staates und die Schaffung eines Obersten Gesetzes zur Normenkontrolle - des späteren Bundesverfassungsgerichts - einsetzen. Doch schon bald erkannte die erfahrene Familienanwältin, was auf dem Spiel stand, wenn sich die vom Redaktionsausschuss vorgeschlagene Formel durchsetzen würde: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muss Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln." Der Ungleichbehandlung von Frauen wären mit Verweis auf die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern juristisch Tür und Tor geöffnet. Auch die entsprechende Vorschrift der Weimarer Verfassung, auf die der Parlamentarische Rat zeitweilig zurückgreifen wollte, und die Frauen und Männern lediglich "grundsätzlich gleiche staatsbürgerliche Rechte und Pflichten" zusprach, hielt Selbert für nicht ausreichend. Schließlich bedeutete "grundsätzlich" gerade nicht "in jedem Fall", und gleiche staatsbürgerliche Rechte umfassten weder die zivilrechtliche noch die politische Gleichstellung. Das sollte sich jetzt ändern.Die politische Sprengkraft dieser Formel war den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates durchaus bewusst. "Wir haben dann die Folge, dass dieser Satz als Verfassungsrecht gilt und dass die entsprechenden Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht mehr gelten. Was dann?", wandte der FDP-Abgeordnete Max Becker in der Sitzung des Hauptausschusses ein. Vor einem "Rechts-Chaos" hatte zuvor schon Frieda Nadig gewarnt, die zweite Sozialdemokratin im Parlamentarischen Rat - bis sie begriff, dass Elisabeth Selbert mit ihrer Formulierung genau dies bezweckte. Vor allem das erzpatriarchale deutsche Familienrecht sollte auf diesem Weg endlich fallen.Doch zunächst galt es, Mehrheiten für die von ihr vorgeschlagene Verfassungsformel zu schaffen. Als sich am 3. Dezember abzeichnete, dass die Mitglieder des Hauptausschusses - wie zuvor der Ausschuss für Grundsatzfragen - gegen ihre Formulierung stimmen würden, warnte Selbert die Mitglieder, "dass in der gesamten Öffentlichkeit die maßgeblichen Frauen wahrscheinlich dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, dass unter Umständen die Annahme der Verfassung gefährdet ist". "Wie ein Wanderprediger", so beschrieb sie später, sei sie danach über Land gezogen, um den außerparlamentarischen Protest der Frauen zu organisieren. Dass der Sturm der Entrüstung, der daraufhin über die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hereinbrach, Erfolg hatte, verdankte sich einem demografischen Faktum, das Selbert geschickt ausnutzte: Schon auf der Versammlung am 3. Dezember erinnerte sie die Parlamentarier daran, dass es - als Folge des Zweiten Weltkrieg - in Deutschland sieben Millionen mehr Frauen als Männer gab und "wir auf 100 männliche 170 weibliche Wähler rechnen". Mit Erfolg: Am 18.1.1949 wurde der neue Gleichheitsgrundsatz in der Sitzung des Hauptausschusses einstimmig gebilligt und ins Grundgesetz aufgenommen.Auch wenn Elisabeth Selbert ihr frauenpolitisches Engagement von ihrer Partei keineswegs gedankt bekam - sie erhielt später weder einen aussichtsreichen Listenplatz für ein Bundestagsmandat, noch nominierte die SPD sie als erste Richterin am Bundesverfassungsgericht - , die von ihr durchgesetzte Gleichheitsformel hatte weit reichende Folgen: Mit Hinweis auf Art. 3 Absatz 2 Grundgesetz setzte das Bundesverfassungsgericht die Regierungen immer wieder unter Druck, gesetzgeberisch zugunsten der Frauen aktiv zu werden. So wurde 1958 unter Adenauer das Gleichberechtigungsgesetz verabschiedet, 1977 setzte die sozialliberale Koalition eine umfassende Reform des Ehe- und Familienrechts in Kraft, mit der unter anderem das Leitbild der Hausfrauenehe aufgegeben wurde. Die Ehegatten sollten ihre Haushaltsführung künftig in "gegenseitigem Einvernehmen" regeln und "bei der Wahl und Ausübung einer Erwerbstätigkeit auf die Belange des anderen Ehegatten und der Familie die gebotene Rücksicht" nehmen. Ein Quantensprung in verfassungsrechtlicher Hinsicht 1994 war die Erweiterung des Grundgesetzes, die nach der Wiedervereinigung von einem breiten Frauenbündnis in die Wege geleitet wurde: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin", heißt es seitdem in Art.3 Absatz2. Damit sind Quoten und Frauenförderprogramme ausdrücklich verfassungskonform - und die Tatenlosigkeit der Regierungen in gleichstellungspolitischer Hinsicht, mit Elisabeth Selbert gesprochen, ein "permanenter Verfassungsbruch".Zum Weiterlesen:Carmen Sitter Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat. Münster 1995.Gisela NotzFrauen in der Mannschaft. Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag 1948/49 bis 1957. Bonn 2003. http://library.fes.de/pdf-files/netzquelle/01743.pdf