Zirkel

Linksbündig Die Tücken des Begriffs "Ehrenmord"

Ayhan Sürücü hat seine Schwester erschossen. Vorsätzlich und aus niederen Beweggründen. Dafür ist er am Donnerstag vergangener Woche zu neun Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden. Seinen beiden Brüdern, die ebenfalls wegen gemeinschaftlichen Mordes an ihrer Schwester Hatun angeklagt waren, konnte das Gericht keine Beteiligung nachweisen, deshalb wurden sie frei gesprochen. Was durchaus bedeuten kann, dass sie tatsächlich unschuldig sind.

An diesen simplen Sachverhalt muss deshalb erinnert werden, weil die öffentliche Debatte im Fall Sürücü eine sehr eigene Dynamik entwickelt hat. Ausgerechnet der Teil der Anklage, der im Prozess nicht ausreichend bewiesen werden konnte, gilt seit vergangener Woche vielen als gesichert: die aktive Beteiligung weiterer Familienangehöriger an der Mordtat. Cem Özdemir etwa wurde in fast allen überregionalen Zeitungen, die am Wochenende über den Richterspruch berichteten, mit der Bemerkung zitiert: "Wenn man weiß, dass solche Mordurteile im Familienrat gefällt werden und der Jüngste ausgesucht wird, weil man bei ihm das geringste Strafmaß erwartet, dann sendet dieses Urteil das falsche Signal in die Gesellschaft." Richtig. Nur: Dafür, dass in diesem konkreten Fall ein derartiges Mordurteil ergangen ist, gibt es keinen Beweis. Sonst hätte das Gericht anders geurteilt.

Der Mord an Hatun Sürücü ist ein furchtbares Verbrechen, und zwar unabhängig davon, ob es nun ein "Ehrenmord" war oder nicht. Ersteres setzt jedoch, wenn der Begriff mehr sein soll als bloße Stimmungsmache, voraus, dass eine solche Tat entweder unter Beteiligung oder im Auftrag anderer Familienangehöriger verübt wurde. Dafür fand das Gericht, wie selbst die Bild-Zeitung einräumen musste, in sieben Monaten Verhandlungsdauer keinen eindeutigen Beweis. Was nicht verhinderte, dass die Familie Sürücü moralisch immer mehr auf der Anklagebank rückte. Belege? Fehlanzeige. In der Osterausgabe der FAZ liest sich das so: "Die Familie Sürücü zeigt sich uneinsichtig: Ihrer Meinung nach hat der jüngste Sohn Ayhan ... recht gehandelt, als er seine Schwester Hatun ›aus verlorener Ehre‹ ermordete." Woher der Kommentator sein Wissen über die Meinung der - immerhin mehr als zehn Mitglieder umfassenden - Familie Sürücü bezieht, bleibt offen. Deren Beifallsbekundungen, Victory-Zeichen und das viel gerügte Lachen nach der Urteilsbegründung mag man unverständlich, provozierend oder geschmacklos finden. Ein Schuldeingeständnis ist es nicht.

Hermeneutischen Zirkel nennen Literaturwissenschaftler einen Teufelskreis, in den gerät, wer Texte oder die Wirklichkeit nur nach denjenigen Hinweisen absucht, die seine These stützen. Das Problem ist dabei, dass hinterher oft nicht mehr auszumachen ist, ob das Muster schon den Ablauf der Geschichte oder erst ihre nachträgliche Deutung prägte. Das Konzept der kulturellen Differenz könnte ein solcher hermeneutischer Zirkel sein. Im Fall Sürücü scheint viel dafür zu sprechen: Die Heirat mit einem Cousin, zu der die Deutsch-Kurdin als 15-Jährige gezwungen wurde, Misshandlungen und Drohungen durch Familienmitglieder, von denen Sozialarbeiterinnen und Freundinnen berichten, und nicht zuletzt die Aussage der Kronzeugin, der Ayhan von der Tatbeteiligung der beiden Brüder erzählt haben soll, lassen sich leicht zum Bild einer tief in den archaischen Traditionen ihrer Herkunft verharrenden Familie verweben.

Doch auch andere Lesarten sind möglich. Dem psychiatrischen Gutachter hat Ayhan Sürücü erzählt, dass er um alles in der Welt verhindern wollte, dass seine Schwester in die Familie zurückkehrte. "Je öfter sie kam, desto mehr gingen meine kleinen Schwestern zu ihr. Sie hat die Ordnung gestört", zitiert ihn der Tagesspiegel. Das klingt nun weniger nach verletzter Ehre als nach dem krampfhaften Versuch, eine Familie zusammenzuhalten und eine männliche Vormachtsstellung zu behaupten, die längst in Auflösung begriffen war: ein Geschlechterkonflikt innerhalb der Familie also, unter den verschärften Bedingungen der Migration. Der Vater lebte aus gesundheitlichen Gründen große Teile des Jahrs in der Türkei, ein Bruder saß im Knast, ein weiterer hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zur Familie. Ayhan Sürücü habe das Gefühl gehabt, er müsse durchgreifen, hat sein Gutachter während des Prozesses gesagt. Durchaus möglich, dass er dabei alleine gehandelt hat. Bis das Gegenteil bewiesen ist, sollte man die anderen Mitglieder der Familie Sürücü aus dem Spiel lassen. Und von Mord reden, nicht von "Ehrenmord".


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