Gedankenexperiment Angenommen, wir befänden uns im Jahr 1988, im Realsozialismus, und dann kommt eine Covid-19-Pandemie: Wie sähe dann unsere gesellschaftliche Situation aus?
Auch in der DDR wären die Straßen wohl eine Weile leer geblieben
Foto: imago/imagebroker
Angenommen, zu jener lange vergangenen Zeit, in der es sie einmal gab, wäre das Coronavirus in der DDR aufgetaucht und hätte eine Covid-19-Pandemie verursacht, wie wir sie heute erleben. Wie sähe dann unsere gesellschaftliche Situation, unsere realsozialistische Situation aus? Oder: wie hätte sie ausgesehen?
Zwischen diesen beiden Fragen liegen 30 Jahre – und wir können nicht sagen, wie sich die DDR entwickelt hätte, wäre sie damals nicht von der Bundesrepublik geschluckt worden. Für unser Gedankenexperiment müssen wir deshalb ein paar Annahmen machen.
Angenommen also, wir befänden uns im Jahr 1988, und weiter angenommen, es hätte damals bereits das Internet existiert. Wir ahnen nicht, dass die DDR ein Jahr später baden geht,
;ter baden geht, sondern halten sie für ziemlich ewig. Die DDR ist eine politische Diktatur mit verfassungsmäßig festgeschriebener führender Rolle der SED einerseits. Und mit einer Planwirtschaft samt garantiertem Recht auf Arbeit andererseits. Die meisten Betriebe befinden sich in staatlichem Eigentum, die alljährlich verabschiedeten Pläne haben Gesetzeskraft, sind also für die Betriebe verbindlich.Und es gibt ein Gesundheitssystem, das ebenfalls zentral geplant wird und in welchem gut 590.000 Personen arbeiten. Im Durchschnitt verdienen sie 16 Prozent weniger als der DDR-Gesamtdurchschnittslohn. Das Hausarztprinzip ist generell immer weiter zurückgedrängt worden. Es gibt staatliche Arzt- und Zahnarztpraxen. Doch dominiert für die ambulante Behandlung ein Netz von Polikliniken und Ambulatorien. Die stationäre Versorgung der DDR-Bürger wird über die 593 (meist staatlichen, aber auch einige konfessionelle) Krankenhäuser mit ihren 169.000 Betten gewährleistet. Ihre medizintechnische Ausstattung ist häufig veraltet oder in schlechtem Zustand.Himmlisch?Alle diese Informationen stammen aus dem Artikel „Gesundheitswesen“ des 1997 erschienen Lexikon des DDR-Sozialismus, herausgegeben von Rainer Eppelmann und anderen. Dort heißt es auch: „Rentabilitätsüberlegungen spielten in den Krankenhäusern eine untergeordnete Rolle. Ein Aufwand-Nutzen-Bewusstsein entwickelte sich aufgrund der Finanzierung nicht, da es weder eine Kostenrechnung im Krankenhaus gab, noch Beschäftigte bzw. Patienten über Preise von medizinischen Leistungen informiert waren.“ Himmlisch? Nein, realsozialistisch.Vor diesem Hintergrund – so stellen wir uns vor – taucht das Corona-Virus auf, und das Gesundheitssystem muss plötzlich mit einer Pandemie fertig werden. Wie die Reaktion der alarmierten DDR-Regierung gewesen wäre, wissen wir nicht. Dass man zunächst versucht hätte, das Problem totzuschweigen, kann man sich gut vorstellen, wissen tun wir es nicht. Viel hätte wohl davon abgehangen, ob die BRD vor oder nach der DDR von dem Virus heimgesucht worden wäre. Immerhin wäre das DDR-Gesundheitssystem, woran Torsten Harmsen am 22. April in der Berliner Zeitung in einem informativen Artikel erinnert hat, nicht völlig unvorbereitet gewesen: denn die DDR-Epidemiologen hatten, als Konsequenz aus der verheerenden Hongkong-Grippe, die zwischen 1968 und 1970 wütete, ein „Führungsdokument zur Grippebekämpfung“ erarbeitet, das der Ministerrat schon 1970 verabschiedet hatte. Es handelt sich um eine Pandemie-Strategie, wie sie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erst 1999 und die Bundesrepublik sogar erst 2005 entwickelten.Die epidemiologische Strategie zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie dürfte große Ähnlichkeit mit derjenigen haben, die die heutigen Staaten praktizieren: Eindämmung der Ansteckungsgefahr zwecks Abflachung der Infektionskurve, so dass die Intensivstationen der DDR-Krankenhäuser unter der Last der Covid-19-Infizierten nicht zusammenbrechen. Die Mittel dazu: Tests, Abstand halten, Ausgangsverbote und Maskenpflicht. Ob es in der DDR genügend Masken gegeben hätte? Oder ob dieser chronisch devisenknappe Staat welche hätte importieren müssen? Vielleicht, vielleicht nicht. Im Wesentlichen dürften die realsozialistischen Maßnahmen identisch sein mit denen, die uns der Kapitalismus derzeit zumutet.Mit einer Ausnahme. Auch die DDR-Geschäfte würden eine Zeit lang schließen. Nur noch Lebensmittelgeschäfte, Tankstellen (?), medizinische Einrichtungen und Apotheken hätten geöffnet. Aber: Was bedeutet das in einer Marktwirtschaft – und was in einer Planwirtschaft?Keine Reserven mehrMarktwirtschaft erleben wir gerade jetzt: die Selbständige, die ihre kleine (oder auch große) Buchhandlung zwangsweise schließen musste, hatte keine Einnahmen mehr, Reserven sowieso nicht. Was sie hat und nicht los wird, sind Kosten, z.B. Miet- und Personalkosten. Und der Einzige, der ihr zu jenem Zaubermittel, das alle Probleme löst, – Geld – verhelfen kann, ist der Staat. Er spendiert ihr nun finanzielle Zuschüsse, die er teils durch Steuereinnahmen, teils durch Kredite finanziert. Verhindert werden soll dadurch die Insolvenz unserer Buchhandlung wegen Geldmangels. So weit, so gut – für die einzelne Unternehmerin. Doch ihr droht noch weitere Gefahr. Die zweimonatige Schließung aller „nicht systemrelevanten“ Läden hat sie ökonomisch überlebt. Und in den Portemonnaies ihrer am Kaufen gehinderten Kunden hat sich eine Menge Geld angesammelt.Doch die Erfahrung des Covid-19-Ausnahmezustands – dazu gehören nicht nur Homeoffice und Kurzarbeit, sondern auch Arbeitslosigkeit und sogar Bankrotte – hat viele Leute verunsichert und nachdenklich gemacht: wie wird es weitergehen? Das beeinflusst die Konsumlaune, und zwar negativ. Man hält sich zurück mit dem Kaufen, man wartet erst mal ab. Erst mal. Aber das hat Folgen. Zwar kaufen die Leute wieder Dinge, selbst Bücher. Freilich nicht mehr so viel wie vor Corona. Erst mal wartet man ab. Erst mal geht die Nachfrage zurück und erst mal erwarten die Ökonomen deshalb eine Rezession. Und dann ist wieder wer gefragt? Der Staat. Er muss jetzt die fehlende private Nachfrage durch staatliche ersetzen. Schon wird wieder nach einer Abwrackprämie gerufen.Und wie wäre es in der DDR? Zwar wären auch hier Läden und Betriebe und Schulen geschlossen, und die Leute wären nach Hause geschickt worden (hätte es 1988 bereits das Internet gegeben, so hätten viele DDR-Bürger Homeoffice praktiziert). Aber während die Marktwirtschaft eine Überflussgesellschaft hervorbringt, bringt die Planwirtschaft (jedenfalls die real-, also staatssozialistische) ein anderes Problem hervor: die Mangelwirtschaft. Mangelwirtschaft heißt, dass ich immer wieder Dinge, die ich kaufen will, für die ich also genügend Geld in der Tasche habe, nicht kaufen kann: „Ham wa nich!“ Mangelwirtschaft heißt nicht, dass generell Armut herrscht. Nie gab es in der DDR Hunger, im Gegenteil. Weltweit gehörte sie zu den reichen Staaten, wenn auch nicht so reich wie die Bundesrepublik. Um das Phänomen Mangelwirtschaft zu verstehen, muss man begründen können, wieso etwa das bettelarme Bangladesch keine, die reiche DDR jedoch sehr wohl eine Mangelwirtschaft war: Weil diejenigen, die in Bangladesch darben, vor gefüllten Regalen stehen und kein Geld in der Tasche haben (weshalb sie nichts kaufen können), und weil die DDR-Bürger zwar Geld in der Tasche haben, aber vor leeren Regalen stehen (weshalb sie nichts kaufen können).Der ausgehandelte PlanWie wirkt sich dieses Phänomen in der hypothetischen Corona-Krise aus? Was ist mit unserer Buchhändlerin, deren Laden nun zwei Monate lang dicht gemacht wurde? Erstens ist sie nicht selbständig, sondern Staatsangestellte – der Laden gehört nicht ihr, sondern dem Staat. Sie erhält weiter ihr Gehalt, desgleichen ihre Mitarbeiter. Sie haben mit der staatlichen Planungsbehörde für 1988 einen Plan ausgehandelt, der ihnen den Verkauf einer bestimmten Menge an Büchern vorschreibt – ausgedrückt als prozentualer Zuwachs gegenüber den Verkaufszahlen 1987. Die entsprechende Stückzahl Bücher zu verkaufen, wäre für die Buchhandlung kein Problem – vorausgesetzt, die Verlage schickten ihr die gewünschten und bestellten Exemplare in hinreichender Menge. Allzu oft jedoch werden ihre Bestellwünsche nicht erfüllt – zu wenig Exemplare werden geliefert oder statt der bestellten ganz andere, die sich als Ladenhüter erweisen. Oft kann sie die Wünsche ihrer Kunden daher nicht erfüllen. In dieser Hinsicht ist die durch Corona erzwungene Schließung ihres Ladens eine Erleichterung: Wo keine Kunden kommen, müssen sie auch nicht enttäuscht werden.Aber in den Taschen dieser Kunden, die wie die Buchhändlerin vom Staat versorgt werden, sammelt sich immer mehr Geld: und sobald die Läden wieder öffnen, verwandelt sich dieses Geld in zusätzliche Nachfrage nach allen möglichen Konsumgütern. Nur trifft diese Übernachfrage nicht auf ein entsprechendes Zusatzangebot – denn während der Ladenschließungen ruhte ja auch die Produktion. So werden die DDR-Bürger wieder einmal – und nun besonders heftig – mit dem Phänomen Mangel konfrontiert. Sie müssen, so sie ihr Geld loswerden wollen, ausweichen auf den schwarzen Markt, wo ihre Konsumwünsche allenfalls zu völlig überhöhten Preisen erfüllt werden.Was wäre nun besser? Der Nachfragemangel des kapitalistischen Marktes mit der Gefahr von Deflation und Rezession? Und einer antizyklischen Staatsverschuldung, auf die mit der Sicherheit des Amens in der Kirche nach ein paar Jahren eine Sparorgie folgen wird? Oder der Nachfrageüberschuss der staatssozialistischen Planwirtschaft mit der Gefahr einer Mangelsituation samt Schwarzmarkt-Inflation, wenn auch ohne nennenswerte Staatsverschuldung?
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