Nach dem Verlust der Illusionen

Posthistorie Der Kapitalismus ist unschlagbar, sagen enttäuschte Linke wie der 68er Wolfgang Pohrt. Eine Entgegnung
Wäre die Schlange eine Fahnenstange, wäre das Ende absehbar
Wäre die Schlange eine Fahnenstange, wäre das Ende absehbar

Illustration: Otto für Der Freitag

Die alt gewordenen Theoretiker der Studentenrevolte von 1968 publizieren und publizieren – wie unter Zwang. Früher nannte man sie Neomarxisten, und seit Ausbruch der Weltfinanzkrise ist Marx ja auch wieder en vogue – mitsamt einem Antikapitalismus, der merkwürdig vertraut erscheint, aber auch wieder ganz anders ist als jener der Jahre 1968 ff. „Marxismus ist Schlafmittel, Beruhigungspille und Beschäftigungstherapie“, heißt es im Pamphlet eines anderen Altgewordenen. „Wenn der Marxismus in Mode kommt, ist das ein Symptom der Flaute“, schreibt Wolfgang Pohrt in Kapitalismus Forever (Edition Tiamat, Berlin 2012, 13 €).

Pohrt gehört zu jenen Theoretikern, die sich im Gefolge der Studentenbewegung einen Namen gemacht haben. Berühmt-berüchtigt wurde er durch seine journalistischen Eingriffe in den achtziger Jahren, als er den Aufstieg der Grünen und der Friedensbewegung polemisch-kritisch begleitete. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der deutschen Vereinigung avancierte Pohrt zum führenden Kopf der anti-deutschen Linken, die im wiederhergestellten Deutschland das „Vierte Reich“ fürchteten und bekämpften. Im Jahr 2003 enttäuschte er seine Anhänger jedoch tief: Dass der Nationalstaat durch die Globalisierung an Bedeutung verloren habe, führe auch die Fantasie vom Vierten Reich ad absurdum. Der Kosovo-Krieg, an dem sich Deutschland unter seiner rot-grünen Regierung beteiligte, galt ihm nun nicht mehr als Hegemoniestreben in der Kontinuität von Kaiserreich und Nazi-Deutschland. Militärisch war der deutsche Beitrag marginal, politisch eine Reaktion auf die Forderung der Nato-Verbündeten, Deutschland solle seine Scheckbuch-Diplomatie beenden und sich normal = aktiv militärisch am Kosovo-Krieg beteiligen. Eine Konstellation, die man ohne Weiteres auf die gegenwärtige Schuldenkrise übertragen kann. Zwar ist Deutschland der austeritätspolitische Zuchtmeister gegenüber den südlichen EU-Staaten – aber fordern nicht auch etliche EU-Länder, dass die Regierung Merkel endlich, endlich eine deutlichere Führungsverantwortung in Europa übernimmt?

Kapitalismus Forever liest sich auf den ersten Blick wie eine linke Version von Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte: Der Kapitalismus ist alternativlos, sein Ende nicht absehbar. Freilich ist das für Pohrt kein Grund zu triumphieren, auch wenn er seine Verzweiflung über die Unverwüstlichkeit des Kapitalismus in Formulierungen kleidet, die als Affirmation verstanden werden könnten: „Seit das Kapital existiert, stolpert es von einer Krise in die nächste. Dabei gedeiht es prächtig, Untergänge wirken aufs Kapital wie ein Jungbrunnen. Immer dann, wenn man meint, es sei am Verenden, ist es gerade dabei, neue Kräfte zu sammeln. Wunderbar, dieses Kapital, einfach wunderbar. Sein einziger Daseinszweck besteht darin, sich zu vermehren – wie das Leben selbst.“

Irrtumswahrscheinlichkeit

Hinter den Zuspitzungen und provokanten Formulierungen steht die Frage, warum die Kapitalismus-Kritik der Kapitalismus-Kritiker immer wieder ins Leere läuft. Wohl kann sie zeitweilig Massen gegen das Kapital mobilisieren, aber doch nur, um wieder in einer modernisierten kapitalistischen Realität zu landen. Pohrts Buch ist der Versuch, die Erfahrung der gescheiterten Revolte von 1968 zu verarbeiten. Und zwar inklusive der eigenen Irrtümer und nicht ohne Sympathie für die damaligen Illusionen; das hebt den Text wohltuend ab von den üblichen Texten der „Alt-Achtundsechziger“ (einer Spezies, zu der auch ich gehöre) .

Beteiligte hätten ihre historischen Situation und ihre Rolle falsch eingeschätzt, wie sich im Rückblick erweist: „Man hat sich damals als verlängerter Arm der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt verstanden, auf sie projizierte man die eigenen Wünsche und Sehnsüchte, und in ihnen sah man den Ursprung einer kommenden Weltrevolution.“ Jedoch habe die spätere Entwicklung „die Anfänge der Protestbewegung zu einer kindischen Illusion gemacht. Aber diese kindische Illusion war zugleich eine Vision, die sich auch als geschichtsbildend hätte entpuppen können. Sie war eine reale Macht, welche das Erkämpfen der winzigen kosmetischen Veränderungen, die allgemein geschätzt werden, erst möglich machte. Woodstock und der Protest gegen den Vietnamkrieg hängen zusammen.“

Das bedeutet mehr, als nur zu sagen, dass sich politische Akteure Illusionen machen. Vielmehr muss man sich offenbar Illusionen machen, um politisch handlungsfähig zu sein. Für die Bolschewiki und die Oktoberrevolution galt das in einem historisch ungleich bedeutenderen Maßstab: was als Aufbau des Sozialismus gemeint war, erwies sich als nachholende Modernisierung – mit dem „Erfolg“, dass nach 75 Jahren das wieder kapitalistische Russland Rohstoffe (und Waffen) exportiert. Und die chinesische Revolution? Wieder eine andere Irrtumsgeschichte.

Die Ahnung, dass Revolutionäre trotz aller Theorie nicht wissen, was sie tun, dass sie ihre Rolle systematisch falsch einschätzen, ist ein Motiv, das schon bei den revolutionären Theoretikern selbst auftaucht: etwa bei Marx 1852 im Achtzehnten Brumaire oder bei Engels 1885 in einem Brief an die russische Revolutionärin Vera Sassulitsch – wenn auch immer nur als Nebenthema: „Vielleicht wird es uns allen so gehen“, lautet ein – dann aber wieder durchgestrichener – Satz von Engels in jenem Brief: offenbar war der Gedanke zu brisant. Die Pohrtschen Überlegungen sind also keineswegs ganz neu, nur das historische Material, auf das er sie anwendet, ist es. Und das hätte verdient, mit mehr Sorgfalt analysiert zu werden. Denn die Irrtumswahrscheinlichkeit gilt ja auch für Pohrts eigene Interpretation der Gegenwart: Wer sagt denn, dass die forsch vorgetragene These von der ewigen Dauer des Kapitalismus in fünfzig Jahren noch die gleiche Evidenz haben wird wie heute?

In Pohrts eigenen Worten: „Tatsache ist, dass wir im Augenblick nicht wissen, ob ein ‚Verein freier Menschen‘ – Marxens Umschreibung für das, was der Kommunismus wäre – möglich oder der Kapitalismus unvermeidlich ist. Wir wissen es einfach nicht, und in dieser Situation hilft ein fester Glaube allein nicht weiter.“ Warum wissen wir es nicht? Weil es keine überzeugende Vorstellung einer Ökonomie gibt, die modern ist, die funktioniert und die nicht kapitalistisch ist. Mit dem Untergang des real existierenden Sozialismus ist zugleich der Glaube verloren gegangen, Sozialismus sei gleichbedeutend mit einer Ökonomie, die nach einem gesellschaftlichen Plan funktioniere. Was aber dann? Ziemlich gähnende Leere. Nur wenn sie es schaffen, eine plausible ökonomische Alternative zu formulieren, könnten Sozialisten Mehrheiten für sich gewinnen. Beantwortet werden müssen diese Fragen: Wie können Märkte politisch reguliert werden? Wie effiziente Pläne demokratisch erstellt werden? Und wie ersetzt man „festen Glauben“ durch Wissen? Durch theoretische Arbeit natürlich – wenn auch gewiss nicht durch ein schlichtes Revival des Marxismus. Für die Ausgestaltung einer gesellschaftlichen Alternative ist die Marxsche Theorie ungeeignet; es ist ja kein Zufall, dass Marxisten, sobald sie konkrete wirtschaftspolitische Strategien für die gegenwärtige Krise erarbeiten sollen, zu linken Keynesianern mutieren.

Kritische Aufräumarbeit

Es gibt wohl keine ähnlich wirkmächtige Theorieformation, in der Philosophen und Geisteswissenschaftler derart überrepräsentiert waren wie im traditionellen Marxismus, der sich einst (lang ist’s her) wissenschaftlicher Sozialismus nannte. „Mit der Wissenschaftlichkeit aber“, so Pohrt, „haben Marxisten in der Regel ein Problem. Es handelt sich um Vertreter der Geistesbranche, was sich meist schon in der Schule abgezeichnet hat: Deutsch und Geschichte gut, Mathe und Physik mäßig. Das Schicksal der weichen Fächer ist es, am Katzentisch sitzen zu müssen. Man lässt sie gewähren, aber man nimmt sie nicht ernst. Ohne Gleichungen geht Hard Science einfach nicht.“

Als ob der Graben zwischen Geistes- und Naturwissenschaften verliefe und mit der Pohrtschen Küchenpsychologie erklärt werden müsste! In Wirklichkeit verläuft er zwischen historisch-dialektisch und ahistorisch-analytisch orientierten Sozialwissenschaften. Bekanntlich hat sich der traditionelle Marxismus auf seine historisierende Theoriebildung viel eingebildet: transitorisch notwendig sei der Kapitalismus; ihn für ewig zu halten, ein Signum bürgerlichen Denkens. Wenn aber auch kritisches Denken, was die historische Selbsteinordnung der Revolutionäre in ihre jeweilige Gegenwart betrifft, systematisch irrtumsbehaftet verläuft, dann ergibt sich eine wesentlich geringere Differenz zwischen historischer und ahistorischer Theoriebildung. Im Klartext: Die Differenz zwischen „dialektischem“ und „positivistischem“ Denken ist nicht mehr die zwischen Wahrheit und Ideologie; unwahr sind beide – ihre Differenz schrumpft auf die spezifische Art der jeweiligen theoretischen Fehler.

Die Konsequenz aus alledem ist freilich nicht die von Pohrt nahegelegte. Kapitalismus forever? Vorerst ja. Wir brauchen und wir haben viel Zeit zum Analysieren. Sollte es so etwas wie einen postkommunistischen Marxismus geben, so hat er erstmal kritische Aufräumarbeit zu leisten.

Karl-Ernst Lohmann ist Ökonom und lebt in Berlin

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