Berlin gibt den Takt vor

Niedersachsen vor der Wahl Die von Sigmar Gabriel geführte Landespolitik hat sich nicht gerade durch Kontinuität ausgezeichnet

Die SPD-Fraktion im niedersächsischen Landtag johlte vor Freude. Ihr neuer Fraktionsvorsitzender Sigmar Gabriel hielt an diesem 30. Mai 1998 seine Antrittsrede. Sein CDU-Kollege Christian Wulff hatte gerade die Wahl gegen Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder verloren. Zum zweiten Mal. Immer suche Wulff Ausreden für seine Niederlagen bei Wind und Wetter, mokierte sich Gabriel zur Freude seiner Fraktionsmitglieder. Beim nächsten Mal, 2003, werde der CDU-Spitzenkandidat womöglich El Niño für seine Wahlniederlage verantwortlich machen. Das Protokoll verzeichnet anhaltende Heiterkeit bei der SPD.

Heute sieht es eher so aus, als wäre es Gabriel, der nach Ausreden sucht. Seine nur zweijährige Amtszeit als niedersächsischer Ministerpräsident könnte am 2. Februar schon wieder vorbei sein. Die Umfragen sagen einen Absturz der allein regierenden SPD um etwa zehn Prozent voraus. Nur die FDP könnte Sigmar Gabriel noch einmal zum Regierungschef machen, bleiben sie unter fünf Prozent. Kommen sie in den Landtag, können der SPD selbst die Grünen nicht mehr helfen. Gabriels Nachfolger hieße Wulff. Der SPD-Fraktion ist das Johlen längst vergangen.

Konjunktur bundespolitischer Themen

Aus der Sicht des Hausherrn in der Hannoveraner Staatskanzlei liegt die Schuld an der schlechten Lage der SPD allein in Berlin. Das Chaos von Rot-Grün bis zum Ende vorigen Jahres verhagelte den Wahlkampfauftakt in Niedersachsen. Die CDU brauchte sich um eigene landespolitische Vorstellungen erst gar nicht zu kümmern. Mit einem vorwurfsvollen Blick Richtung Spree meint Gabriel auch seine persönliche Erfahrung. Sein Vorstoß zur Wiedereinführung der Vermögensteuer war mit Schröder abgesprochen. Davon gehen langjährige Beobachter der Landespolitik aus. Der Bundeskanzler würde sich die Forderung zwar nicht zu eigen machen, aber seinem Amtsnachfolger in Hannover die Initiative freistellen. Gabriel wollte damit seinen Wahlkampfschwerpunkt finanzieren, die Bildungspolitik. Aber Schröder zuckte schon bei den ersten Reaktionen zurück, ließ Gabriel auflaufen.

Seitdem macht der niedersächsische Ministerpräsident seine bundespolitischen Attacken auf eigene Rechnung. Das Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform, der Irakkrieg - mit immer neuen bundespolitischen Themen versucht er, die Felle zu halten, die ihm davon zu schwimmen drohen. Manche deuten die schnellen Themenwechsel als Panik. Vom ursprünglichen Anlauf, im Wahlkampf ganz auf die Bildungsreform zu setzen, blieb nichts mehr übrig.

Angetreten war Gabriel vor zwei Jahren als Modernisierer. Aber er ist auch geprägt von sozialdemokratischen Traditionen. Dass staatliche Ausgaben notwendig sein würden, um die Wirtschaft in Gang zu bringen und Arbeitsplätze zu schaffen, entdeckte er nicht erst mit der Debatte um die Vermögensteuer. Als Gabriel in Goslar aufwuchs, war die Stadt im Harz eine CDU-Hochburg. SPD-Mitglieder sahen sich in einer lebenslangen Oppositionsrolle. Erst mit der Eingemeindung der traditionellen Industrieorte am Nordharzrand wurde die SPD mehrheitsfähig. Als Regierungschef setzte Gabriel auf die etablierten Interessengruppen aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Bauernverband.

Seine Vorwürfe in Richtung Bundesregierung sind verständlich. So leicht hätte sich die CDU ihren Wahlkampf nicht vorgestellt. Es reicht, zur "Denkzettelwahl" aufzurufen, um vielversprechend auf Mehrheiten zu spekulieren. Aus eigenem Profil wäre ihr das kaum gelungen. Spitzenkandidat Wulff ist auch beim dritten Anlauf nicht eindrucksvoller als bei seinen beiden gescheiterten Vorstößen. Aber wenn der Herausforderer jetzt angreift, verlassen Gabriel seine vielgerühmten analytischen Fähigkeiten. Eine starke Landesregierung hätte sich trotz des Gegenwindes aus Berlin behauptet. Dass sie so anfällig war, liegt an ihr selbst.

Kurzatmige Konzepte

Konturlos und kurzatmig sind die beiden Prädikate, mit denen selbst wohlmeinende Beobachter die Regierungspolitik beschreiben. Allenfalls die Tatsache, dass die Landesregierung in der aktuellen Besetzung gerade zwei Jahre Zeit hatte, wird als Entschuldigung akzeptiert. Inhaltlich stand sie sich ständig selbst im Wege. Ihr gerieten selbst gute Anläufe zum politischen Flop. Legendär ist der Versuch zu einer Bildungsreform. Das Konzept dazu schrieb Gabriel, gelernter Gymnasiallehrer, persönlich an einem freien Wochenende zu Hause in Goslar. Weder die zuständige Ministerin noch die Fraktion waren informiert. Seitdem gilt die Ankündigung, der Regierungschef bleibe krankheitshalber zu Hause, in den eigenen Reihen als Drohung.

In der Wirtschaftspolitik setzte man lange auf die wenigen Großunternehmen. Zu lange, wie Wirtschaftsministerin Knorre wenige Wochen vor der Wahl erkannte. Seit Jahren wird über die Einführung einer Investitionsbank zugunsten kleinerer und mittlerer Betriebe geredet. Sie soll die Kreditzurückhaltung der Geschäftsbanken gegenüber dem Handwerk und kleinen Gewerbetreibenden ausgleichen. Doch zustande kam diese Bank bisher nicht. Immer wieder wurde die Gründung verschoben. Ihr derzeit gültiger Startbeginn soll nun 2004 sein, ein Jahr zu spät für die Wahlkämpfer.

Zu spät kommt auch die Auflage eines Konsolidierungsprogramms für die Landesfinanzen. Die sind desolat, zum Teil noch Entscheidungen der früheren rot-grünen Koalition in Hannover unter Gerhard Schröder geschuldet. Damals wurden die Stellen im Öffentlichen Dienst trotz absehbarer Geldknappheit aufgestockt. Doch statt eines Kurswechsels blieb es auch in den vergangenen Jahren beim Stellenzuwachs. Eine Verwaltungsreform, mit der Einsparungen hätten erzielt werden können, lag ausgearbeitet in den Schubladen. Mit dem Amtsantritt Gabriels verschwand sie von der Tagesordnung.

Mehr als zu Schröders Zeiten wird die SPD vom Regierungschef dominiert. Dessen Stärke sei eindeutig die Kommunikation, meinen selbst politische Gegner. Persönlich sei er überzeugend. Seine Schwäche dagegen ist die Kontinuität politischer Themen. Gabriel "irrlichtert" durch die Landespolitik. Richtige Einsichten werden bald durch andere abgelöst und führen selten zu Handlungskonzepten. Immer wenn der Castor mit atomaren Abfällen nach Gorleben rollt, regt sich in Hannover zum Beispiel die Einsicht, das Land dürfe nicht zentraler Müllabladeplatz der Republik werden. Wenn Bayern Atomstrom wolle, müsse es auch Abfälle entsorgen. Doch zu einer nachhaltigen Unterstützung der Bundesregierung bei deren Neuanfang einer Endlagersuche hat sich Niedersachsen nicht aufgerafft.

Schneller Themenwechsel, schlechte Politikorganisation und halbherzige Bemühungen sind die Gründe für eine anfällige Landespolitik. Dahinter verblassen auch die Erfolge. Ein Emssperrwerk sichert die Meyer-Werft in Papenburg mit über 3.000 Arbeitsplätzen. Das Arbeitsplatzmodell 5.000 mal 5.000 bei VW in Wolfsburg kam vor allem dank Gabriels Einsatz zustande. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen unter jungen Leuten wurde annähernd halbiert. Doch ein Profil gewann die SPD-Landesregierung damit nicht. Hängen bleibt im öffentlichen Bewusstsein eher der Umstand, dass sich Gabriel in der Vergangenheit damit hervortat, "grüne Themen" abzulehnen. Niedersachsen war gegen das Bundesnaturschutzgesetz von Umweltminister Trittin und gegen die Legehennen-Verordnung von Ministerin Künast. Auch der letzte Erhöhungsschritt der Ökosteuer wurde aus Hannover kritisiert, im Verein mit CDU-Landesregierungen.

Mit dem öffentlichen Bild der Landespolitik - vieles angefangen, wenig durchgehalten - lässt sich der Negativtrend aus Berlin nicht ausgleichen. Nicht umsonst legte die Landesregierung am Ende ihrer Amtszeit zur Verwunderung der Beobachter keine Bilanz vor. Dem Anspruch an Modernisierung fehlen Richtung und Beharrlichkeit. Um diese Einsicht käme die SPD in Hannover, käme Regierungschef Sigmar Gabriel nicht herum, auch wenn es in letzter Minute noch zusammen mit Bündnis 90/Die Grünen reichen sollte. Ob dazu allerdings die Absetzbewegungen von Berlin beitragen können, ist eher zweifelhaft. Damit bestätigt Gabriel eher den Zusammenhang, dem er zu entgehen wünscht: dem 2. Februar als Termin einer Denkzettelwahl für Rot-Grün in Berlin.

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