An einem kalten und regnerischen Märzabend 1979 standen drei Männer an der Theke der Dorfkneipe von Hösseringen, einem kleinen Ort in der Lüneburger Heide. Ein Anwalt, ein Architekt, ein künftiger "Tatort"-Autor. Sie tranken Bier und kicherten. Zwischen den Schlucken warf abwechselnd einer eine Idee in die Runde und erntete diebische Freude. Spät erst beendeten sie ihr Spiel und gingen schlafen, nebenan im Heu bei einem befreundeten Bauern. Es war der dritte Tag des Trecks der Wendländer nach Hannover, an dessen Ende sie 100.000 Demonstranten erwarteten, eine bis dahin größten Demonstrationen des Landes. Das Spiel, das die drei an der Theke spielten, hieß: Republik Freies Wendland.
Ein Jahr später wurde die Republik gegründet, im
det, im Anti-Atom-Dorf auf der Bohrstelle 1004, mit eigenem Pass und Fahne, orangefarbene Sonne auf grünem Grund. Damals war man weltoffen. Die Welt außerhalb des Wendlandes wurde als "befreundetes Ausland" bezeichnet. Später änderte sie diese Sicht. Mit Vorliebe wird unter wendländischen Aktivisten heute das Bild vom kleinen gallischen Dorf gemalt, das sich allein behaupten muss in einer feindlichen Umwelt. Aus einer Aufbruchstimmung wurde eine Wagenburg-Mentalität. Aus einer Einmischung in gesellschaftliche Gestaltung wurde der Rückzug auf einmal gewonnene Gewissheiten. Die Aktivisten im Wendland sind dabei, mit dem Hinterteil das umzustoßen, was sie und andere zuvor in 25 Jahren aufgebaut haben: die Glaubwürdigkeit ihres Anliegens in der Öffentlichkeit, die Sympathie für ihre Protestaktionen, die Ernsthaftigkeit ihrer kritischen Fragen zur Technik. Dabei sind die 25 Jahre seit der Standortbenennung in Gorleben eine Erfolgsgeschichte. Eine ganze Region hat sich mehrheitlich in ihrer Ablehnung der Atomanlagen nicht erschüttern lassen. Sie hat zudem mit anderen erreicht, dass sich eine Gesellschaft völlig neu orientierte. Doch seit außerhalb des Wendlandes die Aufmerksamkeit für das Thema Atom nachlässt, feiert man drinnen die eigene Einzigartigkeit umso verbissener. Gern hört man Elogen auf die eigene Standhaftigkeit. Das Festhalten an längst überholten Maximalforderungen wird zur aufrechten Haltung verklärt, nicht als gerader Weg in die politische Bedeutungslosigkeit verstanden. Laudatoren sind dann meist ältere Herrschaften, denen das Bild der rebellischen Bürger den letzten Abglanz einer gesellschaftlichen Utopie in die bürgerliche Existenz wirft. Die atomkritische Bewegung hatte Erfolg, weil sie quer zu allen Parteien und Verbänden Bündnispartner hatte - und sie auch annahm. Heute beschäftigen sich die Aktivistengruppen vornehmlich mit Ab- und Ausgrenzungen. Das liebste Hassobjekt sind die Grünen. In einer Versammlung an historischer Stätte in Trebel bei Gorleben wurde am Jubliläumssonntag Ende Februar gefordert, man müsse jetzt endlich in den eigenen Reihen "aussortieren". Von 300 Anwesenden widersprach niemand dieser Wortwahl und Geisteshaltung. Zur ehemaligen Anti-Atom-Bewegung konnte noch jeder gehören, der dazugehören wollte. Heute muss er oder sie erst ein Bekenntnis ablegen: Sofortausstieg, ja oder nein. Man ist vor allem mit dem Rechthaben beschäftigt, weniger mit den politischen Einflussmöglichkeiten. Seit die rot-grüne Bundesregierung den Ausstieg auf die Tagesordnung gesetzt hat, laufen die Aktivisten des wendländischen Protestes hinter den Ereignissen her. Immer mit Verspätung beziehen sie die Positionen, mit denen sie zur rechten Zeit vielleicht die Politik noch hätten korrigieren können. Neuerdings entdeckt die Bürgerinitiative das Endlager als Schwerpunkt ihrer Aktivitäten. In der Region sind schon lange viele Kritiker bereit, über den Castor hinwegzusehen, wenn das Endlager nicht nach Gorleben kommt. Beim letzten Castor-Transport fragte sogar der Polizeieinsatzleiter in Lüneburg, warum in den Reihen der Atomkraftgegner niemand auf die Idee komme, ein politisches Geschäft anzubieten: biete Akzeptanz für Castor, verlange neuen Endlager-Standort. Doch damals war die BI noch nicht so weit. Anstatt sich die Frage auch zu stellen, war man empört, was sich ein Polizeichef so alles leisten kann. Die Endlagerfrage als die zentrale für den Standort Gorleben auf Regierungsebene zu hieven, das hatten vorher schon Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel (SPD) und noch früher der Grünen-Landesverband Niedersachsen vorgeschlagen. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als noch nichts unterschrieben war. Die Vorschläge blieben ohne Resonanz bei den Anti-Atom-Aktivisten. Sie kamen von den falschen Leuten. Gern wird von BI-Sprechern auf ein Demokratiedefizit beim Atomkonsens hingewiesen, weil die Umweltverbände und Anti-AKW-Gruppen nicht mit am Tisch saßen. Darüber, wie sie ihre erste Chance genutzt haben, reden die Verbände lieber nicht mehr. Als Gerhard Schröder 1993 zum ersten Mal einen Ausstieg per Konsens versuchte, als niedersächsischer Ministerpräsident, saßen sie mit am Tisch. Aber weil im Konsens vorgesehen werden sollte, künftige Generationen selbst darüber entscheiden zu lassen, ob sie Atomkraft produzieren wollen oder nicht, wenn sie dafür eine Zweidrittelmehrheit im Parlament bekämen, deshalb verweigerten die Umweltgruppen die Zustimmung. Damals waren kürzere Ausstiegsfristen und ein längerer Baustopp am Endlager als jetzt vorgesehen. Der Rest der Gesellschaft wurde nicht gefragt, ob er mit dieser Ablehnung des Einstiegs in den Ausstieg einverstanden war. Das wäre wohl undemokratisch gewesen. Dabei wäre es wichtig, dass eine kritische Öffentlichkeit den Abwicklungsprozess der Atomenergie begleitet. In 20 Jahren kann viel geschehen. Die Aufmerksamkeit für die Usancen der Atomwirtschaft, die ihrerseits gern Recht und Gesetz sein lässt, wo sie sind, nämlich zwischen den Aktendeckeln, diese Aufmerksamkeit erst gibt die Sicherheit, dass etwas passiert. Dazu reichen einige Anti-Akw-Gruppen nicht. Sie müssten schon auf Unterstützung aus sein, wo immer sie zu bekommen ist. Stattdessen feiern die Anti-Atomaktivisten zum 25. Jubiläum ihre eigene moralische Haltung und erklären den Rest der Welt für korrumpiert. Es wäre kein Wunder, wenn dieser Rest sie bald sich selbst überließe - zum allgemeinen Schaden. Der Autor lebt seit 1980 als freier Journalist in Lüchow-Dannenberg. Von 1989 bis 1998 war er Mitglied der Bürgerinitiative Umweltschutz.