Kurze Fahrtunterbrechung

Tödlicher Unfall durch Castor-Zug Die Verantwortlichen müssen sich nun erneut fragen lassen, ob Atomtransporte noch verantwortbar sind

Der Augenblick des Nachdenkens währte nur kurz. Dann ging alles weiter wie gewohnt. Im Krankenhaus von Avricourt in Lothringen starb der Atomkraftgegner Sebastien D., dem der Castor-Zug die Beine abgefahren hatte. Den Ablauf dieses achten Castor-Transports nach Gorleben veränderte dieser Tod nur für wenige Stunden. Der Zug mit zwölf Behältern setzte seine Fahrt fort. Das Polizeiaufgebot im Wendland formierte sich. Die verschiedenen Protestgruppen beschlossen, ihre geplanten Aktionen einschließlich Schienenbesetzungen nicht zu verändern.

Politiker beteuerten die Unabänderlichkeit der Transporte. Rings um den Verladebahnhof in Dannenberg bereiteten sich Demonstranten auf eine lange, nasskalte Nacht vor. Ein wenig anders sollte der Charakter der Protestaktionen zwar sein. Trauer würde gezeigt und Betroffenheit. Auf der anderen Seite mahnte die Polizeiführung ihre eigenen Leute zu angemessenen Reaktionen. Aber sonst sollte alles so sein wie in den vorherigen Jahren.

Vielleicht ist es zu viel verlangt, ein längeres Zögern zu erwarten, während der Zug unterwegs ist. Die Sicherheitsphilosophie dieser Transporte lautet schließlich: Rollt er erst, darf es keinen Stopp geben. Aber es ist ein Mensch zu Tode gekommen, direkt bei einer Protestaktion gegen die Atomenergie und den Castor. Gibt es da nichts Grundsätzliches zu bedenken? Ein Mensch, der glaubte, einer großen Bedrohung nur unter Inkaufnahme der eigenen Gefährdung entgegentreten zu müssen. Nicht unbedingt unter Einsatz des Lebens, wenigstens nicht real, eher symbolisch. Aber wenigstens so dicht an dieser Schwelle, dass alle Welt den heiligen Ernst spüren sollte, der ihn zu solchen Taten treibt. Und das wäre kein Anlass, noch einmal nachzudenken darüber, ob der Ablauf der Transporte wirklich so unveränderbar, ob er noch verantwortbar ist? Das Unglück zeigt aber auch, dass die Strecke nicht so vollständig gesichert ist, wie offizielle Stellen Glauben machen. So war etwa der Begleithubschrauber wegen Auftankens nicht im Einsatz. Die Überwachung funktioniert offenbar nicht perfekt und kann es wohl auch nicht.

Jeder, der diese Tage des mentalen und polizeilichen Ausnahmezustandes entlang der Transportstrecke zwischen Dahlenburg und dem Zwischenlager Gorleben schon einmal erlebt hat, kennt Szenen, die nur mit Glück nicht schon früher zu einer Katastrophe führten. Als ein Schreibstuben-Polizeibeamter ausrastete und seine Pistole auf Frauen richtete, weil die auf einer Straßenkreuzung tanzten. Wenn Einsatzleiter Befehle geben, die gerade in jüngster Zeit gleich reihenweise von Gerichten für unrechtmäßig erklärt werden. Oder als ein Bauer mit seinem 150-PS-Traktor wutentbrannt auf eine Polizeikette zufuhr. Jeder weiß, dass es in diesen Tagen und Nächten oft Situationen gibt, die von den Beteiligten nicht mehr kontrollierbar sind. Dafür muss die Verantwortung übernehmen, wer für die ständige Wiederholung sorgt.

Das ist auf der einen Seite der Staat, der hinter der Größe des Polizeieinsatzes die Frage verdeckt, welches Rechtsgut mit dieser Generalstabsübung eigentlich geschützt wird. Am Ende der Legitimitätskette geht es um den Schutz des privaten Eigentums derer, denen das abgebrannte nukleare Brennmaterial gehört. Kaum vorstellbar, dass ein anderer Fuhrunternehmer einen ähnlichen Polizeischutz bekäme, wenn sein Transport auf Hindernisse stieße. Da sind auf der anderen Seite die Atomkraftgegner, vornehmlich deren organisierte Gruppen. Ihr Alles oder Nichts in Sachen Atomenergie, die Verkehrung einer potenziellen Gefahr in die Gewissheit einer im nächsten Moment eintretenden Katastrophe fördert nicht unbedingt die Übersicht im Konfliktgeschehen. Schließlich die Eigentümer. Die Stromkonzerne geraten an den Tagen der Castor-Transporten nur selten ins Rampenlicht. Dabei hätten gerade sie die Chance, die Gemüter zu beruhigen, die Erbitterung auf Seiten der Demonstranten aus dem Konflikt zu nehmen.

Für die, wenigstens so weit sie aus dem Wendland kommen, ist jeder Castor die Bestätigung, dass man als nationales Entsorgungszentrum ausersehen ist. Am Ende würde der jetzt angelieferte Müll auf ewig in einem Endlager Gorleben bleiben. Das Bundesumweltministerium will bis Jahresende einen Gesetzentwurf über den Beginn einer neuen Endlagersuche vorlegen. Gorleben hätte wenigstens die Aussicht, die Last der Endlagerung loszuwerden. Doch die Atomwirtschaft - wie die niedersächsische Landesregierung - ist dagegen. Sie will Gorleben als Endlager und hat gute Aussichten, sich durchzusetzen.

So schwindet die Hoffnung, dass es nach den Castor-Tagen im Wendland zum nachgeholten Nachdenken kommt. Zu Befürchten ist eher, dass sich alles wiederholt und Unterbrechungen nur nach Stunden gezählt werden. Wir werden beim nächsten Mal von Glück reden können, wenn nicht wieder ein Unglück passiert.


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