Die Linie 601 fährt nun auch nachts

Strassen und Paläste Frankreichs Vorstädte werden über den künftigen Präsidenten mitentscheiden

Es ist eben kein Verlass auf "die da", auf das "Gesindel" (so der französische Innenminister Sarkozy) in den französischen Vorstädten. Zwischen dem 27. Oktober und dem 17. November letzten Jahres haben sie tausende Autos verbrannt, 300 Gebäude beschädigt, bis zu 11.700 Polizisten auf die Beine gebracht. 6.000 Banlieu-Bewohner sind verhaftet, 328 zu Gefängnis verurteilt worden. Ganz Frankreich hat auf einmal und für einmal von ihnen gesprochen, sogar die Leitartikler in Frankfurt, London oder New York.

Die gleichen Leitartikler saßen mit gespitztem Bleistift bereit, die zum Jahrestag zu erwartenden Aufstände wenn nicht herbeizuschreiben, so doch in Echtzeit zu dokumentieren und zu kommentieren. Die Experten waren schon für die Interviews gebucht - fein abgemischt das Verhältnis kritischer Sozialwissenschaftler und Spezialisten der Polizei - und die Sache ließ sich zunächst auch vielversprechend an: Überfälle und Brandanschläge auf Busse in den nördlichen Vorstädten von Paris, Schwerverletzte bei vorsätzlicher Brandstiftung in einem Marseiller Bus, riesiges Polizeiaufgebot in den "sensiblen Vierteln" am Wochenende des 28. Oktober. Ja und dann ... und dann hat das "Gesindel" einfach den Geburtstag vergessen, die Erinnerungspflicht vernachlässigt.

Was die Journalisten und die publicitysüchtigen Minister in ihrer voyeuristischen, populistischen oder kommerziellen Vorfreude auf eine heiße Geburtstagsparty vergessen haben, ist das simple Faktum, dass die ritualisierten Geburtstagsfeiern eine bürgerliche Errungenschaft sind, in der Familie wie im Staat. Und vergessen haben sie auch, dass Geburtstage organisiert werden müssen, die Emeuten des letzten Jahres aber, anders als die Demagogie des zuständigen Ministers (Sarkozy, der mit dem "Gesindel") zu wissen vorgab, nicht organisiert waren. Vergessen haben sie schließlich, und das ist am Wichtigsten, dass Gedenkveranstaltungen jeder Art, auch die gewalttätigen, eine Einschreibung in die Zeit voraussetzen. Es muss eine Vorstellung von Vergangenheit und zumindest eine Hoffnung auf eine Zukunft geben, damit Gedenktage begangen werden. Die jugendlichen Bewohner der "sensiblen Vorstädte" haben diese Vergangenheit nicht, und sie haben keine Zukunft. Und das wissen sie.

Hat sich denn etwas geändert in den Vorstädten? Natürlich nicht. Das ist nicht allein der gegenwärtigen Regierung anzukreiden. Was jetzt ist, das ist das Resultat langfristiger, aufs Ganze gesehen ungesteuerter Prozesse, die zu tun haben mit Kolonialismus, Weltwirtschafts(un)ordnung, Armut in der Dritten Welt, kurzsichtiger Einwanderungspolitik, verfehlter Städteplanung, Zerfall der Arbeiterbewegung, Integrationsnaivität, Rassismus, Globalisierung und vielem mehr. Was soll sich denn ändern, wenn in Vorstädten wie Clichy-sous-Bois, einem Zentrum der Emeuten des letzten Jahres, wo 50 Prozent der Bevölkerung unter 25 sind, die Jugendarbeitslosigkeit mit 32 Prozent angegeben wird? Dürften die Soziologen diesen Befund noch einmal nach Viertel und nach Hautfarbe differenzieren (dürfen sie nicht, das gilt als Rassismus), dann kämen sie für manche Quartiere auf schwindelerregende Arbeitslosenquoten.

Andererseits stimmt es auch nicht, dass sich gar nichts getan hätte. Es gibt Politiker, vor allem die vor Ort, Sozialarbeiter, karitative Organisationen, Bürgerinitiativen, die sich mit großer Energie für kleine Verbesserungsschritte einsetzen. Die Buslinie 601 zum Beispiel, die Clichy-sous-Bois mit der vier Kilometer entfernten Schnellbahnstation verbindet, die ins Zentrum von Paris führt und früher den Betrieb um 21 Uhr einstellte, die fährt jetzt bis ein Uhr nachts. Theoretisch können nun die Vorstadtbewohner ohne Auto einen kurzen Samstagabend im 20 Kilometer entfernten Zentrum von Paris verbringen. Allerdings nur, wenn sie rechtzeitig wieder aufbrechen, denn anderthalb Stunden müssen sie für die Rückfahrt schon rechnen. Und wenn der letzte Bus weg ist, dann nützt es auch nichts, wenn man die 30 Euro fürs Taxi hat. Nach Clichy-Montfermeil wird der Taxler um diese Zeit nicht mehr fahren.

Ungefähr so sehen die Probleme aus und ungefähr so die Fortschritte. Und weil die Probleme so groß und die Verbesserungen so winzig sind, schaut die politische Klasse weg, wenn es nicht gerade brennt. Die offiziellen Sprüche von der einen und unteilbaren Republik mit den gleichen Gesetzen für alle werden begleitet vom Abzug des Staates aus den Vorstädten. Die Nachbarschaftspolizei, die die Sozialisten eingeführt hatten, wurde von den rechten Regierungen wieder abgeschafft. Die Arbeitsämter, die Sozialstationen werden abgezogen und konzentriert. Der Staat ist nur noch präsent als Repressionsorgan. Um einen Dealer, einen Einbrecher oder einen Brandstifter in die "Zonen" zu verfolgen, müssen Dutzende von Polizisten zusammengezogen werden, die dann schwer bewaffnet einfallen und auf die Feindschaft des ganzen Viertels stoßen. Das Übelste daran ist, dass der Innenminister bei solchen Gelegenheiten, sind sie spektakulär genug, nicht nur die Polizisten, sondern vor allem die Kamerateams mobilisiert, sich vor Ort begibt, markige Sprüche macht und damit auf Stimmenfang geht. Mit einer Kampagne gegen Unsicherheit und Kriminalität hat die Rechte die letzte Wahl gewonnen.

Was macht die französische Politik, wenn sie sich nicht kümmert um den "sozialen Bruch" in der französischen Gesellschaft, den Chirac im letzten Wahlkampf entdeckte, um sich als Doktor zu empfehlen? Sie macht Wahlkampf. Chirac, eingebunkert im Elysée-Palast, kümmert sich am Ende seiner Ära nur noch darum, wie er seinem Parteigenossen und Erzfeind Sarkozy den Weg zur Präsidentschaft verlegen und seinen Schützling Villepin für die Präsidentschaftswahlen 2007 in Position bringen kann.

Das dürfte kaum gelingen, aber gewonnen hat Sarkozy die Wahl darum noch nicht. Seine Law-and-Order-Parolen blamieren sich zu sehr in der Wirklichkeit. Und die Mischung aus Möllemann und Bush, die er repräsentiert, kommt auch bei der konservativen französischen Wählerschaft nicht immer gut an. Er ist vielen zu amerikanisch, zu liberal. Das vor allem unterscheidet seinen Stallgeruch auch von dem des Mists, in dem sich die Wähler des rechtsextremen Front National Le Pens gerne suhlen. Ob er die gewinnen kann, steht dahin.

Die Sozialisten, nach der überraschenden Niederlage und dem folgenden Rücktritt Jospins bei den letzten Präsidentschaftswahlen mehr denn je in verschiedene Fraktionen gespalten, haben zum ersten Mal ihren Kandidaten in parteiinternen Vorwahlen bestimmt. Zur Wahl standen Dominique Strauss-Kahn, ein Schröder-Typ mit Schröder-Programm, Laurent Fabius, der sich links davon positionierte, mangelnde Kaufkraft beklagte, gegen Europa wetterte, sich populär gab, was man ihm gerne auch geglaubt hätte, wenn man ihm den Musterschüler aus guter Familie nicht so deutlich ansähe und die Erinnerungen an seine Zeit als Premierminister unter Mitterand schon stärker verblasst wären - und Ségolène Royal.

Als die Wahlen stattfanden, da waren sie schon entschieden durch die landesweiten Meinungsumfragen, in denen Royal seit Monaten weit vorn liegt. Ségolène Royal, die wenig Kabinettserfahrung hat, keine Hausmacht in der Sozialistischen Partei (sieht man von François Hollande, dem Parteivorsitzenden und Lebensgefährten Royals, einmal ab), die mit 53 Jahren vergleichsweise jung ist. Und Frau. Die erste, die in Frankreich Aussicht hat, Präsidentin zu werden.

Der frappierende Erfolg von Frau Royal ist nicht leicht zu erklären. Der Hinweis auf die vielen Titelblätter der Illustrierten mit ihrem ansehnlichen Konterfei, im Sommer auch gern im Bikini, greift zu kurz. Klar, Frau und relativ jung, das verspricht wenigstens ein bisschen Wechsel in der Politik, wo sonst wenig wechselt und ein grundlegender Wechsel von den Wählern eher gefürchtet wird. Und sie ist eine erfolgreiche Frau französischen Musters: Karriere, Mutter mehrerer Kinder, nicht verheiratet, von selbstbewusster Attraktivität, erfreulich weit entfernt von Maggie oder Angie. Die beste Analyse ihres Erfolgs stammt wieder einmal vom längst verstorbenen Pierre Bourdieu, der ihren kometenhaften Aufstieg nicht mehr miterlebte. Der hat einmal vor laufender Kamera seinen Habitus-Begriff mit einem praktischen Beispiel erklären wollen: "Habitus und politische Aussage müssen nicht immer zusammen passen. Zum Beispiel ... Also zum Beispiel die Freundin von François Hollande, wie heißt sie noch - Royal? - ja Royal. Also die beruft sich auf das sozialistische Programm und hat einen rechten Habitus." Das war vor einigen Jahren. Jetzt wurde der Film wieder ins Netz gestellt und von Besuchern geradezu überschwemmt.

Ségolène Royal will aussehen wie eine französische Frau aus guter Familie mit exzellenter Ausbildung. Sie wirkt nach rechts mit rechten Themen, die sie ab und zu in die Debatte wirft, um sie dann hinterher halbwegs zurückzunehmen. Die Offizierstochter plädierte dafür, die Armee wieder als Schule der Nation zu nutzen; sie plädierte für die Lockerung der Bestimmung, dass Schüler in die dem Wohnort der Eltern nächstgelegene Schule gehen müssen (was die Wahl einer "guten" Schule mit leistungsmotivierten, disziplinierten Schülern erschwert); sie löckte gegen die Autonomie der Europäischen Zentralbank. Sie ist Spezialistin für populäre Themen, surft elegant auf den Wellen der öffentlichen Meinung, sie legt sich nicht fest, sondern gefällt lieber, schert sich nicht um Programme, sondern bedient Gefühle, erklärt nicht, sondern ruft Echo hervor und ist selbst Echo. Kurz: Die Wahlkampfstrategie, die ihr die Spin-Doktoren auf den schlanken Leib geschneidert haben, ist so ziemlich in allem das Gegenteil von der des strengen, protestantischen, pflichtethischen, rationalistischen, überzeugungsgesteuerten Lionel Jospin. Selbst Strauss-Kahn und Fabius haben Meinungen, vertreten Überzeugungen. Ségolène Royal sammelt lieber Meinungen, beklatscht sie und bündelt sie vorsichtig. Sie vertritt kein Programm, sondern ihr Wahlsieg ist das Programm. Über ihre außenpolitischen Optionen weiß man fast nichts. Wäre so die Todesstrafe abgeschafft worden? Kann man so eine Gesellschaft reformieren? Was passiert, wenn man auf diese Weise die Einwanderungspolitik entwirft?

Für die Linke wäre also eigentlich Platz links von den Sozialisten. Aber da ist keine Einigkeit. Die einzig stabile Organisation auf der Linken ist die KP, die kontinuierlich an Einfluss verloren hat, daneben zwei trotzkistische Linien, die Antiglobalisierer um José Bové und viele weitere Strömungen. Immerhin haben sie es geschafft, landesweit circa 500 lokale, Partei- und Strömungsübergreifende Kollektive zu bilden, die bisher vergeblich versuchten, sich auf ein gemeinsames Programm und vor allem einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen zu einigen. Der Ausgangspunkt war die Idee, die Koalition wieder herzustellen, die bei der Volksabstimmung die europäische Verfassung zu Fall gebracht hat. Er ist, so steht zu befürchten, falsch gewählt, denn die damalige Koalition hatte zwar antikapitalistische Elemente, war aber vor allem bestimmt durch diffuse Angst vor Lohndumping durch den berühmten "polnischen Klempner". Hinter dem Antiliberalismus, der hier beschworen wird, steht eine nostalgische Vorstellung eines souveränen Frankreichs, die nicht nur dann illusionär ist, wenn sie mit anderen Akzenten von der politischen Rechten propagiert wird.

So wäre also politisch Erfreuliches nicht zu vermelden aus Frankreich? Aber doch. Immerhin fährt die Buslinie 601 jetzt auch nachts. Und die monatelangen Auseinandersetzungen um ein Gesetz, das durch Verschlechterung der arbeitsrechtlichen Situation von Berufsanfängern Arbeitsplätze zu schaffen vorgab, ist von den Studenten, ist von "der Straße" zu Fall gebracht worden. Politik ist in Paris nicht besser als in Berlin. Aber seit ein paar hundert Jahren kann die Politik in Paris nicht sicher sein, dass sie ungestört bleibt. Das ist nicht wenig, so wie die Dinge liegen. Und wichtiger als die Wahl zwischen Royal und Sarkozy.


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