Das Heim lag ganz am Waldrand und bestand aus zehn reizenden Schwarzwaldhäusern! Von außen wirklich nett – aber darauf konnte ich damals nicht achten.“ So beschrieb Christa von Hofacker in ihrem Tagebuch das Kinderheim im Borntal bei Bad Sachsa im Südharz. Damals zwölf Jahre alt, gehört sie zu den 46 Kindern, die nach dem Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 von der Gestapo in „Sippenhaft“ genommen werden. „Die Familie Stauffenberg wird ausgelöscht bis ins letzte Glied“, kündigt SS-Führer Heinrich Himmler im August 1944 unter Berufung auf „urgermanische“ Sitten an. Tatsächlich werden die Kinder der Attentäter – sie sind zwischen zwei Wochen und 14 Jahre alt – von ihren Familien getrennt und in das abgeschiedene Heim gebracht.
Am 12. April 1945 hocken sie im Keller des Hauses 3, als dort amerikanische Soldaten auftauchen. „Ich dachte damals nie an eine Befreiung durch die Amerikaner, mir waren sie grässlich! Denn sie waren ja die Feinde der Deutschen!“, erinnert sich Christa von Hofacker. Zwei Wochen später erscheint der gerade von der US-Armee eingesetzte Bürgermeister von Bad Sachsa und stellt die Kinder unter seinen persönlichen Schutz. Er werde für Kleidung und vor allem ihre baldige Heimkehr sorgen. Willi Müller ist Sozialdemokrat und kurz zuvor aus dem KZ Buchenwald befreit worden. „Und jetzt heißt ihr wieder so wie früher, ihr braucht euch eurer Namen und Väter nicht zu schämen, denn sie waren Helden“, sagt Müller. Christa von Hofacker vermerkt in ihrem Tagebuch, sie fühle sich „endlich, endlich!“ verstanden. Die „Erwachsenen“ aber – gemeint sind die noch verbliebenen Aufseher – würden kein Wort dazu sagen.
Wie haben die Kinder des 20. Juli ihre Zeit in Bad Sachsa erlebt? Berthold Graf von Stauffenberg, der älteste Sohns des Hitler-Attentäters, war mit seinem Bruder unter den ersten Kindern, die an diesem Ort interniert wurden. Ihre Herkunft sollten sie vergessen, ihren Familiennamen verschweigen. Die Stauffenbergs hießen nun „Meister“. Bilder von den Eltern wurden ihnen abgenommen. Christa von Hofacker, die als eines der ältesten Mädchen dem Personal zur Hand ging, erfuhr dabei, warum die Kinder neue Namen erhielten. Die kleineren sollten in Familien von SS-Offizieren aufwachsen, die größeren auf eine Napola geschickt werden, wie die Eliteschulen für den Nachwuchs des NS-Staates hießen. Schließlich waren die Kinder nicht nur „arisch“, sondern größtenteils auch „edlen Geblüts“, kamen sie doch aus dem preußischen Offiziers- und Beamtenadel.
In Bad Sachsa entfiel für die deportierten Kinder jeder Unterricht. Die Schule im Ort blieb ihnen verwehrt. „Der Tag ist irgendwie gut rumgegangen“, erinnerte sich später Berthold Graf von Stauffenberg. „Es gab sehr wenig zu lesen. Spazieren gehen durften wir zwar auch außerhalb des Geländes, aber immer nur begleitet.“ Wie haben die Trennung von der Mutter und der Tod des Vaters, der plötzlich als Verbrecher galt, auf ihn als Kind gewirkt? „Natürlich, das ist mir schon im Gedächtnis geblieben, die Ratlosigkeit, wir hatten ja keine Ahnung, was mit der Familie passiert war. Und ich musste ja auch mit der Tatsache fertig werden, dass mein Vater versucht hatte, den Führer umzubringen.“
Graf von Stauffenberg wird später zum General der Bundeswehr aufsteigen, doch wollte er damit nicht in die Fußstapfen des Vaters treten. Auch hat er, so weit möglich, die Teilnahme am offiziellen Gedenken zum 20. Juli vermieden. „Ich hatte einen Horror davor, Berufsverfolgter zu werden.“ So wurde er nie Mitglied der „Forschungsgemeinschaft 20. Juli“, in der sich die Nachkommen der Attentäter zusammenschlossen, um das Erbe ihrer Vorfahren zu pflegen.
„Das Kind eines Verbrechers“
Bertholds Bettnachbar in Bad Sachsa war der elfjährige Albrecht von Hagen, der sich am 20. Juli 1944 in einem „Pimpfen-Lager“ auf Usedom aufhielt und stolz das Rangabzeichen eines Fähnleinführers für seine Uniform entgegengenommen hatte. Als er zurückkam nach Langen, auf den Gutshof des Großvaters, organisierte der gerade ein Solidaritätsmeeting für Adolf Hitler, zusammen mit dem örtlichen Veteranenverein. Albrecht ahnt nicht, dass der Vater Albrecht von Hagen an dem Attentat beteiligt war – er hatte den Sprengstoff besorgt. Dass Albrecht in Bad Sachsa „neben dem Sohn eines Verbrechers“ liegen musste, störte ihn schon. Ja, es war nicht in Ordnung, wie er sich damals gegenüber dem Stauffenberg-Sohn verhalten habe, sagt Albrecht von Hagen im Rückblick. Ansonsten sei die Zeit dort für ihn schnell vergangen, mit Geländespielen und mit „Räuber und Gendarm“. Irgendwie habe er das Ganze als Fortsetzung des Jungvolklagers empfunden. Er sei ein anderer Typ als der bedächtige, gern lesende Stauffenberg gewesen.
Auch heute stehen beide, was die Erinnerungen an Bad Sachsa betrifft, in verschiedenen Lagern. Von Hagen ist immer dafür eingetreten, Bad Sachsa zu einem Gedenkort zu machen. Irgendwie bringe er das zusammen mit Churchills Diktum, man habe mit Hitlerdeutschland „das falsche Schwein geschlachtet“. Die Kinder im Borntal bedienen für ihn offenbar die Erwartung mancher Attentäter, nach der Beseitigung des Nazi-Spuks an Churchills Seite weiter gegen die Sowjets ziehen zu können. Von Stauffenberg dagegen warnt vor einer „Inflation von Gedenkstätten“. Er sei wohl ein wenig arrogant, sagt er von sich selbst, aber während für die anderen der 20. Juli 1944 als zentrales Ereignis in der Familiengeschichte gelte, stehe er für ein Adelsgeschlecht, das es stets gewohnt gewesen sei, öffentliche Verantwortung zu tragen. Kurz vor Kriegende mussten die Kinder im Haus 3 enger zusammenrücken. Der Stab von Generalmajor Dornberger, zuständig für die Produktion der V1- und V2-Raketen, war vor den anrückenden sowjetischen Truppen geflohen und hatte im Kinderheim von Bad Sachsa Quartier bezogen. Unter denen, die sich dort aufhielten, war auch Wernher von Braun, der ab 1937 als Technischer Direktor der Heeresversuchsanstalt Peenemünde an der Ostsee die zunächst A4 genannte V2-Rakete entwickelt und getestet hatte.
Unter dem Motto „Es gab auch andere Deutsche“ hat sich die Bundesrepublik gern auf den Ethos des Widerstandes der Männer des 20. Juli berufen, doch sollten deren Kinder oft genug zu hören bekommen, ihre Väter seien letztlich Verräter gewesen. Vera von Lehndorff, später bekannt als Fotomodell Veruschka, zählte ebenfalls zu den Sippenhäftlingen in Bad Sachsa. Als sie Anfang der 1950er Jahre in eine neue Schule kam, stellte ihre Lehrerin sie als „das Kind eines Verbrechers“ vor.
In Bad Sachsa selbst verschwand die Geschichte des Kinderheims in einer Erinnerungslücke. Erst 1998 kehrten einige der dort Festgehaltenen zum ersten Mal zurück, um sich danach regelmäßig zu treffen – für die damalige Bürgermeisterin Helene Hoffmann und den Stadtarchivar Günter König Anlass zu einer intensiven Spurensuche. Mittlerweile hat die Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Kurhaus der niedersächsischen Kleinstadt eine ständige Ausstellung über die verschleppten Kinder eingerichtet.
Dass sie von der Gestapo unvermittelt aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und einem ungewissen Schicksal ausgesetzt wurden, hat Wunden hinterlassen. Für Christa von Hofacker bleibt der Vater Caesar von Hofacker als Held in Erinnerung. Der Stauffenberg-Sohn, aber auch Albrecht von Hagen finden es allerdings übertrieben, von Traumatisierung zu sprechen. Die Väter seien im Krieg, das heiße, kaum sichtbar gewesen, bestenfalls zweimal im Jahr auf Urlaub nach Hause gekommen.
Tod der Väter – diese Erfahrung teilen die Widerstandskinder mit Millionen von Altersgefährten, deren Väter nie aus dem Krieg zurückkehrten. Einen Helden als Vater zu haben, das sei für ein Mädchen leichter als für Jungen, meint Christa von Hofacker: Mädchen können ihren Vater bewundern und verehren, die Jungen dagegen müssen sich an dem großen Vorbild messen.
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