Die Kids sind wieder in der Schule, es wird wieder ordentlich gelernt, für die nächste Prüfung, das Abitur. Der Stoff wird nachgeholt, in Deutsch, Englisch, Mathematik. Das ist die Hauptsache. Für die genervten Eltern und die KultusministerInnen. Musik wird sowieso gestrichen, wegen der Verbreitung der Aerosole und wegen der nötigen Konzentration auf das Wesentliche. Und plötzlich ist auch keine Rede mehr von jenen Kompetenzen, mit deren Definition in Rahmenlehrplänen man Lehrkräfte und KultusbeamtInnen jahrelang beschäftigt hat. Jetzt zeigt sich, worauf es offenbar ankommt: auf Prüfungen, auf abfragbares Wissen, Noten und Abschlüsse.
Ein Jahr versäumter Unterricht führt angeblich zu einem Einkommensverlust von zehn Prozent über die gesamte Lebensarbeitszeit, rechnet der Münchner Bildungsökonom Ludger Wößmann den erschreckten Eltern vor. Die hatten damals ja noch ordentlichen Unterricht, und darum können sie unschwer ausrechnen: Drei Monate Lockdown, das sind 2,5 Prozent weniger Geld im Leben!
Die SchülerInnen kamen nicht wegen des drohenden Einkommensverlustes gern wieder zurück in die Schule. Auch nicht, um den Stoff für die Prüfungen nachzuholen. Das ging teilweise auch von zu Hause aus. Manche haben im Schneidersitz auf der heimischen Couch oder – wenn sie denn eins hatten – im eigenen Zimmer durchaus konzentriert lernen können. Lernen ist nicht an einen Raum und einen vorgegebenen 45-Minuten-Rhythmus gebunden. Aber den SchülerInnen fehlte das Zusammensein mit den anderen, deren Rückmeldung und Unterstützung, ja, auch die Auseinandersetzung mit ihren LehrerInnen.
Kinder, bei denen zu Hause genügend Computer herumstehen, bei denen es WLAN gibt, bei denen Eltern und Geschwister Vorbilder dafür sind, wie man digital arbeiten kann, haben in der Lockdown-Zeit nicht viel versäumt. Manche, nicht nur die sozial Privilegierten, haben in ihrer Umgebung vielleicht auch AnsprechpartnerInnen gehabt, die ein wenig die sozialen Kontakte zu LehrerInnen und MitschülerInnen ersetzen konnten.
„Stoff“ hatten die meisten von ihnen auch während des Lockdowns bekommen: Arbeitsblätter, Aufgaben, damit sie die nächsten Prüfungen schaffen. Nur wenige LehrerInnen hatten den Mut und auch die Kenntnisse dafür, die Möglichkeiten des Internets für intelligente und fantasievolle Aufträge zur Recherche zu nutzen, kollaboratives Schreiben anzubieten, Lehrfilme oder Projektarbeiten in Auftrag zu geben, die jenseits des geforderten lehrplangerechten Stoffs lagen. Lernmöglichkeiten im Internet und am Computer also, die es in der Schulklasse ohne digitale Medien so nicht gibt.
Lernen, reden, streiten
LehrerInnen und SchülerInnen haben die Möglichkeiten und Grenzen von digitalisiertem und individualisiertem Arbeiten erfahren. Man kann mit Distanz-Lernen etwas lernen, aber Bildung, die einen Menschen verändert, ist ein sozialer Prozess, der ein Gegenüber braucht. Es braucht jemanden, mit dem man über Gelerntes reden und streiten kann. Das ist es, was SchülerInnen im Lockdown gefehlt hat, neben dem ganz alltäglichen Gequatsche und Gekabbele, das zum Menschsein dazugehört.
Während den SchülerInnen Schule als sozialer Ort fehlte, geht es im öffentlichen Diskurs nur darum, dass die Defizite in der Digitalisierung aufgearbeitet werden müssten. 500 Millionen Euro werden für digitale Endgeräte bereitgestellt. Das wären keine 50 Euro für jede/-n der ca. elf Millionen SchülerInnen. Oder 250 Euro, wenn man von einem Fünftel „armer“ SchülerInnen ausgeht. 500 Millionen Euro sollen auch für dienstliches „Endgerät“ für die rund 800.000 LehrerInnen bereitgestellt werden. Fragt sich, ob die das wirklich brauchen, weil sie in der Regel natürlich einen Laptop zu Hause stehen haben, und wie kaputtgesparte Kommunen die Anschaffung und Administration der Geräte schultern sollen – von der ökologischen Fragwürdigkeit dieser Mammutanschaffung ganz zu schweigen.
Nach dem Lockdown wäre es an der Zeit, neu darüber nachzudenken, welche gesellschaftliche Rolle die Schule spielen soll und wie Bildung und Lernen in diesem Zusammenhang organisiert sein sollten. Warum können aus der Not geborene Interventionen (keine Klassenwiederholung und freundlicher Umgang mit Noten) nicht als Chance dafür gesehen werden, Schule neu zu denken? Wenn SchülerInnen zu Hause auch lernen können, wenn sie sich selbstständig zu kleinen Lerngruppen zusammenfinden können – warum können wir das nicht ausbauen? Weshalb sollten wir nicht flexiblere Formen des Lernens zulassen als den Klassenverband auf der einen Seite, der ja auch in seiner überdimensionierten Größe hygienische Probleme aufwirft, und das Distanzlernen auf der anderen Seite? Es ist an der Zeit, Schulen zu offenen Lernräumen zu machen, in denen SchülerInnen an wichtigen Themen ungebunden und in Gruppen arbeiten können. In der Lockdown-Zeit haben einige Schulen gute Erfahrungen mit LernbegleiterInnen gemacht. Lehramtsstudierende, die einzelne SchülerInnen unterstützt haben und als GesprächspartnerInnen auch für die Eltern zur Verfügung standen. Dies ermöglichte kleinere Gruppen.
Zurzeit fehlt es noch an geeigneten Räumen und an Personal. Die Schulen brauchen mehr und flexiblere Räume, auch Freiräume, pädagogische Freiheit. Alte gewerkschaftliche Forderungen also. Nun hatte man von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) recht lange nichts anderes gehört als die Forderung nach dem Schutz ihrer Risikogruppen, die Forderung nach Mundschutz und Abstand. Vorschläge, wie sich Schule verändern müsste – auch unter dem Gesichtspunkt einer Pandemie, die uns begleiten wird –, wie das Recht auf Bildung gesichert werden könnte, waren erst einmal nicht wahrzunehmen. Dabei war die GEW mal so etwas wie die Speerspitze der Bildungsreform. Dass sie sich nun zunächst auf die rein gewerkschaftliche Interessenvertretung zurückzog, stieß bei Eltern, SchülerInnen und der eigenen Klientel auf Unverständnis.
Die Pandemie aufarbeiten
Nun hat die Gewerkschaft doch noch die Kurve genommen. Anfang Oktober meldete sich das Bündnis „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“. Es fordert die Umwandlung „in ein inklusives Schulsystem ohne äußere Gliederung und Auslese“. Denn jene Schulen, „die sich als Orte für selbstständiges und gemeinsames Lernen aller Kinder und Jugendlichen verstehen und eine partizipative und inklusive Schulkultur entwickeln“, hätten die Folgen des Corona-Ausnahmezustands besser auffangen können. Federführend in diesem Bündnis vieler Schulverbände ist Ilka Hoffmann, GEW-Vorstandsmitglied und zuständig für Schulpolitik.
Unzählige Menschen machen in der Pandemie existenzielle Erfahrungen. Das Leben verändert sich – und die Werte gleich mit. Besonders hart waren Kinder und Jugendliche betroffen. Werden diese Erfahrungen in der Schule thematisiert und aufgearbeitet? Mein Eindruck ist: Nein. Es muss ja so viel Stoff im Unterricht nachgeholt werden. Dabei gäbe es jetzt so viel zu besprechen, wenn die Schule ihrer Aufgabe nachkommen wollte, aus den SchülerInnen mündige, selbstbewusste und kritische BürgerInnen zu machen. Das fängt an bei der Veränderung unseres Umgangs miteinander und hört auf bei der Diskussion um den Abbau demokratischer Rechte.
Außerdem geht es auch darum, zu verstehen und weiter zu lernen, wie wir mit der Pandemie umgehen können. Bedeutsame Fragen müssen in der Schule diskutiert werden, denn Corona wird nicht so schnell wieder verschwinden: Welche Maßnahmen sind wirksam, welche nicht? Welche müssen wo gelten? Welche Messzahlen sind überhaupt aussagekräftig in Bezug auf die Ansteckungsgefahr und eine gesundheitliche Bedrohung? Muss man nicht abwägen zwischen epidemiologisch begründeten Einschränkungen und BürgerInnen-Rechten? Ist es nicht notwendig und legitim, nach konkreten Begründungen zu fragen?
Die Schule muss ein Ort werden, der die Defizite im gesellschaftlichen Corona-Diskurs ausgleicht, an dem Maßnahmen hinterfragt und Erfahrungen thematisiert werden. Das wäre auch ein Beitrag dazu, unsinnigen Verschwörungstheorien das Wasser abzugraben. Die Fokussierung auf die Digitalisierung greift da zu kurz.
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