Gelernt ist nicht mehr gelernt

Bildungsmarkt Europa In Zukunft gilt ein Gesellenbrief nicht mehr viel - jeder wird nach einem Punktesystem persönlicher Qualifikationen beurteilt

Das deutsche Berufsbildungssystem ist super. Es ist ein Exportschlager. Schade nur, dass immer weniger junge Leute da hineinkommen. Nach außen wird es weiter gelobt, doch im inneren wird es ausgehöhlt. Nun legt die Bundesregierung im Verein mit der Europäischen Union die Axt an dieses zum Sonntagsreden-Mythos stilisierte Modell. Das Bundesbildungsministerium hat ein Gutachten anfertigen lassen, in dem die Auflösung herkömmlicher Berufsausbildungen in ein Modulsystem vorgeschlagen wird. In die gleiche Richtung weisen die Signale aus Brüssel.

Mit drei Instrumenten, dem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR), einem Europäischen Kreditpunktesystem für die berufliche Bildung (ECVET) und einem "Europass" soll ein europäischer Arbeitsmarkt vorangetrieben werden. Und gleichzeitig wird der europäische Markt für die Aus- und Weiterbildung eröffnet.

Vordergründig geht es um mehr Transparenz: Man will die Mobilität der Arbeitskräfte erleichtern. Ein in Deutschland ausgebildeter Mechatroniker soll mit seinem Berufsabschluss auch in anderen EU-Ländern etwas anfangen können, Arbeitgeber in allen Mitgliedsstaaten sollen Bescheid wissen, was jemand kann, den sie einstellen wollen. Dafür gibt es den "Europass", eine Berufsbiografie nach einem standardisierten Muster, in dem man seine Qualifikationen sammeln und dokumentieren kann. Eine "harmlose" Dokumentation also. Diesen Europass gibt es bereits. Dagegen wurde ein Beschluss über den europäischen Qualifikationsrahmen immer wieder hinausgeschoben, denn irgendwie passt der Rahmen nicht über alle 27 Systeme, und schon gar nicht über das deutsche. Ende des Jahres soll der EQR verabschiedet werden. Das Kreditpunktesystem für die Berufsausbildung, ECVET, ist immer noch umstritten. Ob es jemals beschlossen wird, steht noch in den Sternen. Dennoch gehören die drei Instrumente zusammen.

Es zählt der "learning outcome"

Bei EQR und dem Kreditpunktesystem geht es um sehr viel mehr als Transparenz. Es geht um einen Paradigmenwechsel. Nicht mehr die Dauer einer Ausbildung oder die Institution, die einen Diplom oder einen Titel verleiht, sollen etwas über die erworbene Qualifikation aussagen, sondern einzig und allein der "learning outcome", also das, was jemand kann, egal welche Ausbildung er oder sie wo durchlaufen hat.

Der Qualifikationsrahmen soll auch informell erworbene Fähigkeiten erfassen - also auch das, was jemand in der Volkshochschule gelernt hat, in seinem Hobby oder zuhause am Computer bekäme man als Kompetenz bescheinigt. Ein Fortschritt, meinen die Befürworter des EQR, auch unter Gewerkschaftern: Kenntnisse und Fähigkeiten, die man im Beruf erworben hat, sind dann gleichwertig mit denen aus der Schule oder Hochschule. Sie erhoffen sich einen leichteren Zugang zum Studium und die Anerkennung von Qualifikationen, die zum Beispiel Jugendliche ohne Ausbildungsplatz in ihren Warteschleifen erworben haben.

Der europäische Qualifikationsrahmen sieht acht Stufen vor. Auf der ersten, untersten Stufe muss jemand "einfache Aufgaben erledigen können" und "Lernberatung annehmen". Da muss man nicht einmal richtig schreiben und sprechen können - es reicht, dass man auf einfache Ansprache reagiert. Erst auf Stufe acht, dem oberen Ende der Kompetenzskala muss man "mit Autorität kommunizieren durch Teilnahme an einem kritischen Dialog mit Fachkollegen". Für diese letzte Kompetenzstufe muss man einen Doktortitel haben. Die oberen vier Kompetenzränge sind schon von Akademikern besetzt. Aber auch ein Meister kann auf Stufe fünf oder sechs stehen, wenn ihm entsprechende Kenntnisse bescheinigt werden.

Bleiben noch vier weitere Kompetenzstufen. Wie bekommt man die deutschen Berufsabschlüsse in dieses System? Der EQR, falls er Ende des Jahres beschlossen wird, wirkt nicht unmittelbar. Er muss in einem "Deutschen Qualifikationsrahmen" umgesetzt werden. Daran basteln nun Bund und Länder, Arbeitgebervertreter und Gewerkschaften in einer Arbeitsgruppe. Wieso ist ein Doktor automatisch Stufe acht und ein Bachelor Stufe sechs? Zählt also doch wieder die Ausbildungsdauer? Während im europäischen Berufsbildungssystem nur noch der "outcome" zählt, hängt es in den nach dem Bologna-Muster umgestellten Hochschulen von der Dauer der Ausbildung ab, ob jemand Bachelor oder Master ist. Kreditpunkte gibt es auch an der Hochschule - nur werden sie dort nach "workloads" berechnet - zu Deutsch: Arbeitsstunden, in der Berufsbildung dagegen soll Qualifikation für Qualifikation nach ihrem Kompetenzniveau bewertet werden.

Wie soll das praktisch aussehen, wenn Abschlüsse nicht mehr zählen und Prüfungen der Kammern? An deren Stelle, oder zumindest ihnen zur Seite treten private Zertifizierungsagenturen. Sie werden den Wert von Ausbildungsgängen nach Punkten bewerten. Mit 40 Punkten landet man auf Stufe eins, mit 240 steht man an der Spitze. Ausgearbeitet wurde das System im Auftrag der EU-Kommission von Mitarbeitern der "Qualifications and Curriculum Authority" (QCA), einer englischen Institution, die Qualifikationsmodule entwickelt und in aller Welt vermarktet. Hier entsteht ein völlig neuer Markt, stellt Ingrid Drexel fest, die im Auftrag von Verdi und IG Metall ein Gutachten zum europäischen Qualifikationssystem erstellt hat. In vielen EU-Ländern sind schon Firmen und Institute dabei, Instrumente für diesen Markt zu entwickeln.

Die Schaffung - nicht des europäischen Bildungsraums, sondern des europäischen Bildungsmarktes steht auch hinter der "Outputorientierung": Es kommt nicht mehr darauf an, wer die Ausbildung veranstaltet und welche Qualität eine Ausbildungseinrichtung oder ein Kurs hat, sondern nur noch darauf, was der oder die Absolventin am Ende kann. Jedes Bildungsinstitut kann seine Ausbildungsware anbieten, die unterliegt keiner unmittelbaren Qualitätskontrolle. Kontrolliert wird der "Kunde", ob und was er gelernt hat.

Das, so mutmaßt Ingrid Drexel wohl zu Recht in ihrem Gutachten, ist auch der Hintersinn der Rede vom "lebenslangen Lernen". Die Grenzen zwischen beruflicher Erstausbildung und Weiterbildung werden aufgelöst, jeder muss Zeit seines Arbeitslebens sehen, wie er seine Arbeitskraft up to date hält - und kann dafür auf das mehr oder minder vielfältige Angebot des Bildungsmarktes zurückgreifen.

Aus für das duale System?

Das ist das Ende des Berufskonzepts, meint Ingrid Drexel, und mit ihr der Bremer Berufspädagoge Felix Rauner. Man macht keine dreijährige Ausbildung mehr und bekommt am Ende einen Facharbeiter- oder Gesellenbrief, sondern man belegt Kurse, Module, Bausteine, aus denen man seine individuelle Berufsbiografie bastelt. Das strebt offenbar auch Bundesbildungsministerin Annette Schavan an, die sich dazu gerade ein Gutachten eingeholt hat. Einer der beiden Autoren, Eckart Severing, leitet das Berufsbildungsinstitut der bayerischen Arbeitgeberverbände. Die Folgen der Modularisierung: Betriebe müssen keine langwierige, geschlossene Berufsausbildung mehr anbieten, sondern sie können Mitarbeiter passgenau zu Kursen schicken. Der Absolvent bekommt ein paar Punkte dafür, er kann sich ja auf eigene Kosten irgendwo weiterbilden und für seine Beschäftigungsfähigkeit selber sorgen - Employability und "lebenslanges Lernen" sind die Stichworte der EU-Berufsbildungspolitik dazu.

Das duale System der Berufsausbildung ist auf eine breite Berufsqualifikation ausgerichtet. Und es ist an Standards orientiert, die zumindest bundesweit anerkannt sind. Das heißt: Arbeitgeber können sich darauf verlassen, dass ein Facharbeiter bestimmte Qualifikationen hat, egal, wo er ausgebildet wurde. Und der Facharbeiter hat einen Anspruch auf eine entsprechende tarifliche Eingruppierung - auch wenn er ihn heute längst nicht mehr überall durchsetzen kann. Künftig kann der Arbeitgeber allein entscheiden, was er von den Kreditpunkten hält, die jemand mitbringt. Niemand kann aus seinem Kontostand auf dem Bildungskreditpunktekonto einen Anspruch auf bestimmte Entlohnung ableiten.

An der mit einiger politischer Aufmerksamkeit geführten Auseinandersetzung um die Dienstleistungsrichtlinie vorbei wird mit dem Projekt EQR mehr oder minder unbemerkt eine gigantische "Vermarktung" voran getrieben. Mit der Outputorientierung können sich neue private Anbieter etablieren, ohne dass sie einer Qualitätskontrolle unterliegen. Mit den Zertifizierungs- und Anerkennungsverfahren wird ein neuer Markt für Qualifikationen eröffnet, und mit der Modularisierung und Segmentierung von Qualifikationen werden die Arbeitskraftanbieter ebenfalls segmentiert und isoliert: Jeder steht mit seiner Ware allein auf dem Markt, ihr Gebrauchswert verschwindet hinter der allgemeinen, gegenüber Inhalten gleichgültigen Punktebewertung.

Der EQR und das Punktesystem ECVET müssen auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Erst in diesem Jahr kam eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Bund und Ländern, Gewerkschaften und Unternehmerorganisationen zustande, die die EU-Vorgaben umsetzen und über einen "Deutschen Qualifikationsrahmen" beraten soll. Würde man sich an die EU-Vorgaben halten, so müssten Arbeitgeber und Gewerkschaften das Ende des "sozialpartnerschaftlichen Modells" beschließen, bei dem sie zusammen mit der staatlichen Seite Berufsabschlüsse definieren und die Kammern die Zertifikate erteilen.

Sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberorganisationen werden das duale Berufsbildungssystem nicht mir nichts, dir nichts abschaffen. Wahrscheinlich wird die Zertifizierung nach dem EQR parallel zum herkömmlichen Berufsbildungssystem eingeführt werden. Doch der Druck auf die Beteiligten wird wachsen - so wie wir es bei der Einführung der neuen Studiengänge in den Hochschulen erlebt haben. Die Erosion des Berufsbildungssystems hat nicht in Brüssel begonnen. Aber sie wird von dort voran getrieben.


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