Riesige Umbrüche, ganz ohne Plan

Bildungsgipfel I Die Probleme, vor denen wir in Schule, Berufsausbildung und Hochschule stehen, fehlen auf der Tagesordnung

Zunächst einmal: Gut, dass es überhaupt einen Bildungsgipfel gibt. Obwohl der Name zu viel verspricht. Nachdem nun schon in der Vorbereitung alles klein gehackt wurde, bei dem es um Geld oder um grundsätzliche Strukturentscheidungen geht, ist gipfelmäßig Herausragendes nicht mehr zu erwarten. Und um Bildung geht es eigentlich gar nicht. Der Bildungsgipfel am 22. Oktober wurde beschlossen, als das Bundeskabinett auf seiner Sommerklausur in Meseberg im vergangenen Jahr den drohenden Fachkräftemangel als wirtschaftliches Wachstumsproblem bemerkte und eine nationale "Qualifizierungsoffensive" ins Auge fasste. Es sollte also von vornherein um ein Thema gehen, das genau dort hingehört, wo es die Zeit in ihrer letzten Ausgabe platziert hat: in den Wirtschaftsteil.

Das ist erst einmal nichts Anstößiges. Im Gegenteil: In der Wirtschaft geht es bekanntlich um die wirklich wichtigen Dinge. Und "die Wirtschaft", also die Vertreter des Kapitals, machen Druck. Sie brauchen weniger Schulabbrecher, weniger "Risikopotenzial" und mehr höher Qualifizierte, das haben BDI und BDA so beschlossen.

Chaos beim Hochschulzugang

Sicher, es wird eine Verlängerung des Hochschulpakts geben, um mehr Studienplätze zu schaffen. Und um die Augen weiter vor den tatsächlichen Problemen in den Hochschulen zu verschließen: Auf der einen Seite fehlen Studienplätze. Fast alle Fächer in den meisten Hochschulen haben lokale Zulassungsbeschränkungen. Die von den Hochschulen so dringend geforderte "Befreiung" von der Bewirtschaftung der Studienplätze durch die Zentrale Vergabestelle (ZVS) hat zu einem organisatorischen Chaos geführt, mit der Folge, dass schätzungsweise 15 Prozent der Studienplätze unbesetzt bleiben. Nun soll zwar die ZVS wieder als "dialogorientierte Serviceagentur" die Bewerbungen der Studierwilligen verwalten, aber nur für die Hochschulen, die dazu bereit sind und auch dafür bezahlen - man weiß also noch nicht, ob das für die Studierenden wirklich eine Erleichterung bringt.

Zentral verteilen lassen sich die Studierenden ohnehin nur noch in den Medizin-Fächern. In allen anderen Fächern hat jede Hochschule nach der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge ihr eigenes Studienprofil. Dank der neuen Unübersichtlichkeit, dank der Einführung der Studiengebühren, und schließlich der unsicheren Perspektive, was man denn mit einem Bachelor anfangen kann, ist die Studierneigung in den letzten Jahren zurück gegangen. Das betrifft vor allem die potenziellen "Bildungsaufsteiger", also Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien.

Die Untersuchung einer Konstanzer Forschergruppe, im Auftrag der Bundesregierung erstellt, zeigt: Je mehr Erfahrungen die Studierenden mit den neuen Studiengängen sammeln, desto stärker lehnen sie sie ab! Statt also nun alle Kraft der Hochschulen in die Reform der Studiengänge zu werfen, sie darauf zu konzentrieren, das Studium wieder studierbar zu machen, wurden sie in den "Exzellenzwettbewerb" geschickt - und das heißt: Konzentration auf die Forschung, Vernachlässigung der Lehre. Und um der Wettbewerbsideologie Genüge zu tun, wird die bisherige Stärke des deutschen Hochschulsystems geopfert: Nämlich Abschlüsse anzubieten, die, bei allen Unterschieden, doch ein relativ hohes Durchschnittsniveau garantierten, egal, ob sie in Heidelberg oder Hildesheim erworben wurden.

Wenn es Chancen des Bologna-Prozesses gab, so hat man sie vertan. Sie hätten z.B. in der Öffnung der Hochschulen für weit mehr als die von BDI und BDA beschlossenen 40 Prozent eines Jahrgangs bestanden, um eine breite wissenschaftliche Qualifikation als Grundlage für zahlreiche Berufe zu vermitteln.

Verwirrung um berufliche Anerkennung

Das ganze berufliche Bildungssystem, von der Lehre bis zur Hochschulbildung, ist im Umbruch. Die Grenzen zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung verschwimmen. Kammern wollen ihre Abschlüsse mit einem Bachelor oder Master schmücken, Hochschulen bieten duale Ausbildungsgänge an. Im Europäischen Qualifikationsrahmen werden berufliche und Hochschulabschlüsse als gleichwertig behandelt. Da ist das Herumgeeiere, ob man denn nun einen beruflichen Meisterabschluss unter gewissen Voraussetzungen als Hochschulzugangsberechtigung anerkennen kann, genauso anachronistisch wie der Beschluss der Universität Frankfurt, allein das Abitur als Studienberechtigung anzuerkennen. Wenn schon Berufsbefähigung qua Hochschulabschluss, dann muss man eben, wie in anderen Ländern, die Hochschulen wirklich für alle öffnen, die eine Sekundar­ausbildung abgeschlossen haben, und dann müssen wir gründlich Abschied nehmen vom deutschen Abitur.

Das Bildungswesen funktioniert nicht mehr - es bietet den jungen Menschen mit Realschul- oder gar Hauptschulabschlüssen kaum noch Chancen, sich beruflich und gesellschaftlich zu integrieren. Selbst Handwerksberufe werden mehr und mehr von Abiturienten besetzt. Dennoch wird es von den "stakeholders", sowohl den Arbeitgeberverbänden als auch den Gewerkschaften, als zukunftsweisend verteidigt.

Die berufliche Bildung wird durch den Europäischen Qualifikationsrahmen und die darin angelegte Modularisierung grundlegend verändert. Die Lehrstellenabgabe würde die Exklusion der "Bildungsbenachteiligten" in der Berufsbildung nicht aufheben. Sinnvoll und möglich wäre eine Ausbildungsgarantie für alle Jugendlichen. Dafür müsste die Ausbildung in den berufsbildenden Schulen als gleichwertig zur betrieblichen Ausbildung anerkannt werden - mit noch mehr Kursen und Maßnahmen der Bundesagentur schafft man keine wirklichen Berufschancen.

Bund bei Schulen machtlos

Schließlich die Schule: Die Misere der Hauptschulen ist oft genug beschrieben worden. Die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit ist dermaßen dilettantisch ins Werk gesetzt worden, dass sie die CDU in Hessen und die CSU in Bayern entscheidende Wahl-Prozente gekostet hat.

Es soll weniger Schulabbrecher geben. Doch an der Aussonderung der potenziellen "Risikoschüler" in die Hauptschulen wollen die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten nichts ändern. Im Gegenteil - diese Kinder sollen schon in der Schule der Betreuung durch die Bundesagentur anheim fallen. Sie sollen also ihre "Maßnahmekarriere" nahtlos schon in der Hauptschule beginnen können - das ist der reine Zynismus.

Die Polarisierung in den Schulen schreitet voran: Betuchte Eltern wählen schon für ihre Grundschulkinder Privatschulen. Beliebt ist bilingualer Unterricht. Nicht schlecht, wenn der in öffentlichen Schulen angeboten wird, und nicht als Exklusion der "Bildungsfernen", sondern im Gegenteil, als Integrationsmaßnahme. Es gibt einige wenige attraktive Modelle zweisprachiger öffentlicher Grundschulklassen, in denen Kinder mit deutscher und mit anderer Muttersprache schon von klein auf ein geschärftes Sprachbewusstsein erwerben. Solche Modelle müssten gefördert werden. Doch das Instrument, das man dafür bisher hatte - ein Modellversuchsprogramm der Bund-Länder-Kommission - gibt es nicht mehr. Die BLK hat man ja der Föderalismusreform geopfert.

Allen Beteuerungen der CDU zum Trotz, sie wolle am gegliederten Schulwesen festhalten, wird kräftig umgebaut: In Hamburg, und im CDU-regierten Saarland ebenso wie in Rheinland-Pfalz etabliert sich neben dem Gymnasium ein neuer Schultyp, der alle Bildungsgänge anbietet, einschließlich des Abiturs, hier heißt sie Stadtteilschule, dort "Realschule plus". Denn auch eine Sekundarschule ohne die Option des Abiturs wird nicht mehr akzeptiert. Mehr als durch die Gesamtschulversuche der siebziger Jahre wird dadurch die Schullandschaft verändert. Und weil es so klammheimlich geschieht, nicht offen politisch und pädagogisch diskutiert wird, droht es in die Hose zu gehen.

Das Bildungswesen ist in einem dramatischen Umbruch - in allen Bereichen. In den siebziger Jahren gab es einen Bildungsgesamtplan - was immer auch aus ihm geworden ist - er wäre ein Instrument, um diese Veränderungen reflektiert und planmäßig anzugehen. Dieses Instrument hat man bewusst zerschlagen, alle Planung galt ja in der nun grandios scheiternden Phase des Neoliberalismus als Teufelzeug. Der Bildungsgipfel ist weit davon entfernt, einen neuen Bildungsgesamtplan ins Leben zu rufen. Er ist der klägliche Versuch, die Fehler wiedergutzumachen und das Porzellan zu kitten, das in der Föderalismusreform zerschlagen wurde - nicht mehr. Die Probleme, vor denen wir in den nächsten Jahrzehnten stehen, fehlen auf der Tagesordnung. Und warum ist es dann gut, dass es den "Gipfel" gibt? Es ist halt wie in dem blöden Sozialarbeiter-Witz: Gut, dass wir mal drüber sprechen.

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