Kein Bürgerkrieg, kein Völkermord, keine Naturkatastrophe haben die Augen der Welt je so stark auf den Schwarzen Kontinent fokussiert wie die Fußball-WM 2010. Seit Südafrika im Mai 2004 von der FIFA den historischen Auftrag bekam, das globale Fußballfest zum ersten Mal auf afrikanischem Boden auszurichten, hat es viele Zweifel gegeben, ob das Land wirklich in der Lage sei, ein solches Weltereignis auf die Beine zu stellen.
FIFA-Chef Sepp Blatter hat die Skepsis immer wieder selbst genährt, mit dem Entzug des Turniers gedroht und einen geheimnisvollen „Plan B“ angedeutet. Das alles scheint vergessen: Die Auslosung der Gruppenspiele Anfang Dezember in Kapstadt hat nicht nur gezeigt, dass Südafrika den Ansprüchen gerecht wird. Mit diesem in 1
iesem in 190 Länder übertragenen Spektakel ist, laut Blatter, die WM gleichsam angepfiffen und die Zuversicht gestärkt worden, dass die Welt am Kap ein rauschendes Fußballfest erlebt. Einen kleinen Vorgeschmack auf die Lebensfreude, den Spaß, die Leichtigkeit, die auf Fans und Spieler warten, haben die Gala und das Straßenfest während der Auslosung vermitteln können. Vielleicht trägt der Rausch, in den Südafrika sich derzeit hineinredet, sogar die spielerisch eher mittelklassige Nationalmannschaft Bafana, Bafana (s. unten) im Sommer wider Erwarten über die erste Runde hinaus. Zu wünschen wäre es dem Team, dem Land und einem ganzen Kontinent.Südafrika hat sich eine neue – eine eigene – Zeitrechnung gegeben, die mit dem Zuschlag 2004 begann und mit dem Schlusspfiff des Finales am 11. Juli 2010 endet. Alles, was die Euphorie und das neue Nationalgefühl stören könnte, bleibt deshalb vorerst ausgeblendet, wird weggeredet oder beschönigt. Jetzt geht es erst einmal darum, der Welt zu beweisen, dass Afrika kein Kontinent ist, aus dem nur Katastrophenberichte kommen. Das Championat bietet die einmalige Chance, dem Ruf des krisengeschüttelten, zu oft schon verloren gegebenen Kontinents zu entkommen und „Afro-Pessimismus“ abzustreifen. Insofern ist es nicht weiter überraschend, dass vom Sudan über die Elfenbeinküste bis Angola die Weltmeisterschaften auch als „afrikanische Spiele“ begriffen werden.Weniger als 15 Rand Die Ernüchterung nach dem Tag des Endspiels wird umso größer sein – vorrangig für das Gastland. Zwar gibt es das blühende, wohlhabende Südafrika mit seinen Naturschönheiten und Safaris, seiner Fauna und den Weinbergen – das Land, in dem es sich gut leben lässt, das Fans und Touristen zu sehen bekommen, das sie bewundern und sie immer wieder an dieses Ende der Welt zurückziehen mag. Aber die Rede ist von der Welt der Weißen, der wenigen Farbigen und zählbaren Schwarzen, die zu den Siegern der Boom-Jahre kurz nach dem Zusammenbruch der Apartheid gehören.Kaum irgendwo sonst in Afrika klafft die Schere zwischen Arm und Reich heute so weit auseinander wie am Kap – Tendenz steigend. Über zehn Millionen vegetieren in menschenunwürdigen Behausungen, 13 Millionen sind auf Sozialhilfe angewiesen, allein 2009 haben eine Million Südafrikaner ihren Job verloren – Ein Drittel der Bevölkerung muss mit weniger als 15 Rand am Tag auskommen. Das sind 1,35 Euro! Aids rafft die Menschen an der sozialen Peripherie zu Tausenden dahin. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt nur noch bei 47 Jahren – 44 sind es in Afghanistan.Ein PulverfassDie Kriminalität hält das Land gleichsam in Schach – etwa 50.000 Morde im Jahr, die meisten in den Townships. Zwar ging diese Rate etwas zurück. Aber die Welle der Gewaltkriminalität – bewaffnete Überfälle, Entführungen, Vergewaltigungen – rollt ungebrochen dahin, weil nur die Symptome, aber nicht die Ursachen bekämpft werden. Die Polizei geht inzwischen mit unglaublicher Härte gegen Kriminelle vor. Die Parole heißt „Erst schießen, dann fragen“. Wenn auch Unbeteiligte Opfer von Polizeikugeln werden, wird das unter der Kategorie „Kollateralschaden“ verbucht. Vor der WM will Südafrika der Welt im wahrsten Sinne mit Gewalt vorführen, wie es ernst macht bei der Verbrechensbekämpfung und dafür einen Verlust an Rechtsstaatlichkeit riskiert.Das „Konjunkturpaket“ Fußball-WM hat Folgen der globalen Krise für Südafrika bereits 2009 abgefedert. Es hat freilich zugleich die Unruhe in den Armenvierteln geschürt, Begehrlichkeiten auf Teilhabe geweckt. 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid wollen immer weniger Menschen hinnehmen, auf Dauer in einer Parallelgesellschaft abgestellt zu sein, aus der es kein Entkommen gibt. Fast täglich berichten Zeitungen wie Cape Times, The Star oder Herald über Aufruhr und Protest in den „informal settlements“, den Blechhüttendörfern irgendwo im Regenbogenland. Südafrika diskutiert 15 Jahre nach Mandelas Wahl zum ersten schwarzen Präsidenten wieder über Rassentrennung. Julius Malema, der Präsident der ANC-Jugendliga, zieht die Rassismus-Karte fast täglich und verantwortungslos, um Zorn und Wut in den Armenvierteln über das Versagen des regierenden ANC einzudämmen, der lieber Fregatten, U-Boote und Kampfjets einkauft, als Schulen und Hospitäler zu bauen.Helen Zille, Premierministerin am Westkap, die ihren Wahlsieg fast ausschließlich den Weißen verdankt, spielt genauso hemmungslos auf dieser Klaviatur: Ihre Politik zielt darauf, traditionelle Vorurteile ihrer weißen und farbigen Klientel gegen die Schwarzen zu verfestigen. Bei aller Fußball-Feierlaune – Südafrika bleibt ein Pulverfass.Der umstrittene Präsident Jacob Zuma scheint allerdings entschlossen, die größte sportliche Herausforderung in der Geschichte Afrikas zu nutzen, um zu versöhnen und zu besänftigen. Nach Nelson Mandela, der dem Land die Vision der Regenbogennation gab, und Thabo Mbeki, der Südafrika gespalten hat, könnte Zuma es sein, der trotz aller Zerrissenheit nationale Identität prägen hilft, auch wenn er trotz Weltmeisterschaft nicht hoffen darf, sein Heil in ökonomischer Prosperität suchen zu können. Deshalb wird sich in der Tat erst nach dem letzten Abpfiff am 11. Juli zeigen, wie tief Südafrikas innere Krise wirklich ist. Vorerst feiert der Kontinent.
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