SANKTIONEN UND WERTEKANON Wer den Ausbau der EU-Festung seit dem Schengener Abkommen verfolgt hat, kann die Entwicklung in Österreich eigentlich nur für europäisch halten
Die Strafmaßnahmen, die 14 EU-Staaten gegen Österreich verhängt hatten, sind aufgehoben. In ihrem Abschlussbericht über die Lage im Österreich der ÖVP-FPÖ-Koalition hatten die »drei Weisen« Ahtisaari (Finnland), Frowein /Deutschland) und Oreja (Spanien) für einen solchen Schritt plädiert. Sie vermerken in ihrem Report unter anderem, dass der Minderheitenschutz in Österreich besser sei als in vielen andern EU-Staaten und es auch zu weniger Gewalt gegen Ausländer komme als anderswo in der Union.
Als ich kürzlich in Mazedonien unterwegs war, traf ich auf einen jungen Akademiker, der mir erklärte, warum die EU ein Kartell von Betrügern sei. Ich war nach Mazedonien gekommen, weil ich die Dörfer und Städte d
6;rfer und Städte der Aromunen besuchen wollte - eines Volkes, das in acht verschiedenen Staaten lebt und das es doch amtlich nirgendwo gibt. Am ehesten noch in Rumänien und eben in Mazedonien, wo sie zwar auch nicht als Minderheit anerkannt sind, genießen die Aromunen (oder Vlachen, Wlassi, Zinzaren, wie sie auch genannt werden) immerhin rudimentäre kulturelle Rechte. Aber das ist eine andere Geschichte.Stefano Guda jedenfalls ist zugleich ein aromunischer Intellektueller und ein erfolgreicher mazedonischer Unternehmer. Solche Identitäten, die sich zwar nicht aus dem Zwang der ethnischen Abgrenzung bilden, sondern vielfache Übergänge ermöglichen, gibt es. Vielleicht liegt gerade in ihnen die Zukunft Europas, nicht nur in Skopje oder London.Dieser junge Mann, der außer seiner romanischen Mutter- und der slawischen Staatssprache noch ausgezeichnet Griechisch, Englisch, Französisch und Italienisch spricht, legte mir dar, wie die EU in sein Leben eingegriffen, seine private Existenz beschädigt und sein geschäftliches Fortkommen beeinträchtigt hat. In seiner Jugend war Stefano wie Millionen junger Franzosen, Dänen und Deutscher in Europa unterwegs. Er ist nach Amsterdam getrampt, durch das Salzkammergut gekommen und im schönen Genf über die Preise erstaunt gewesen. Jetzt ist er 35, und an die Stätten zu gelangen, die er einst ohne Geld in der Tasche besichtigen konnte, ist ihm heute, da er ein wohlhabender Mann geworden ist, nahezu unmöglich.Osteuropäer zu sein, ist zweifellos eine VorstrafeSolange die EU, die heute die Grenzen in ihrem Inneren aufgehoben hat, noch nicht existierte, war Europa für Stefano ein Kontinent mit durchlässigen Grenzen. Kaum aber, dass sich die Union zur grenzenlosen Zollfreihandelszone erklärte, war für ihn Schluss mit der Freiheit des Reisens. Tatsächlich gibt es ein anderes, das ausgesperrte Europa, für deren Bewohner die Freizügigkeit zu Ende ging - just als sie in jenem Teil des Kontinents, der sich gemeinhin mit Wohlstand, Kultur und Zivilisation in eins setzt, als Recht eines jeden Einzelnen proklamiert wurde.Wenn Stefano aus dem einen in den anderen Teil Europas gelangen will, muss er sich jetzt nicht nur in die langen Schlangen von Leuten einreihen, die vor den Konsulaten anstehen, um dann wochenlang auf die Genehmigung zur Überquerung der Schengen-Grenze zu warten; er braucht viel mehr auch Erklärungen von Geschäftspartnern oder Freunden aus der EU, dass sie im Krankheitsfall dafür sorgen werden, dass er keinen EU-Staat auch nur einen Cent kosten wird. Dabei - sagt Stefano - bin ich kein Krimineller.Da irrt er natürlich, denn Osteuropäer zu sein, ist zweifellos eine Vorstrafe; die neuen Schleppergesetze, die jetzt überall in Europa erlassen werden, tragen diesem Tatbestand auch konsequent Rechnung und kriminalisieren mit den kommerziellen Schleppern gleich auch jene Europäer, die im falschen Teil Europas geboren wurden. Dem Gesetz gilt der Schlepper, der aus Geldgier Leute im versperrten Anhänger über die Grenze schafft, gleichviel wie der Flüchtling, der seine Kinder auf illegale Weise nachholen möchte, da er es auf legale nicht darf.Nun wird mancher einwenden, dies sei ein Problem, das sich mit der EU-Osterweiterung bald lösen werde. Aber diese Hoffnung trügt. Mazedonien beispielsweise ist in der Warteschleife der Aspiranten längst wieder ganz an den Anfang zurückverwiesen worden. Die Republik müsse erst der albanischen Volksgruppe das Recht auf eine eigene Universität gewähren, ehe man mit ihr überhaupt in irgendwelche Verhandlungen zu Vorverhandlungen trete.Dass die osteuropäischen Staaten, die in die EU drängen, zuvor auf den Schutz ihrer nationalen Minderheiten verpflichtet werden, halte ich für eine ausgezeichnete Sache. Nur verstehe ich nicht ganz, weshalb dann das EU-Mitglied Griechenland seine slawisch-mazodenische wie seine romanisch-vlachische Minderheit nicht nur nicht zu fördern, sondern nicht einmal in ihrer Existenz anzuerkennen braucht. Und das, obwohl allein die Vlachen mehrere hunderttausend Menschen in Griechenland zählen. Dass die EU im eigenen Bereich getrost Rechte verweigern darf, die zu erfüllen sie mit moralischer Entrüstung andere nötigt, ist den Politikern, die sich periodisch an ihren humanistischen Phrasen berauschen, im nüchternen Zustand durchaus bewusst.Die Blutspur der »europäischen Werte«Das alles hat auch mit Österreich zu tun. Dass zwischen Wien und den anderen 14 EU-Mitgliedern ein Streit ausgebrochen ist, hat sich auch bis ins letzte mazedonische Dorf herumgesprochen und allenthalben für Staunen gesorgt. Von Mazedonien - einem der ausgesperrten Länder Europas aus besehen - hatte Österreich in den vergangenen Jahren nämlich keineswegs den Eindruck eines ungezogenen Bengels, sondern geradezu des über eifrigen Musterknaben der Union gemacht.Natürlich kommen Menschen, die aus dem Balkan ins Reichsgebiet der Union einzureisen versuchen, häufiger an den Grenzen Österreichs als denen Schwedens zu stehen, und wenn sie dabei die Integration Europas vornehmlich als dessen Teilung erleben, dann machen sie eine Erfahrung, die für sie unauflöslich mit Österreich verbunden bleibt.Nun aber sind drei Dinge zusammengekommen. Erstens ist Österreich bei seinem Beitritt zur EU von dieser beauftragt worden, den Grenzwächter gen Osten abzugeben und so etwas wie eine elektro nisch gesicherte Grenzmark zu bilden. Zweitens ist Österreich bereits unter der letzten Regierung diesem Amt, die unliebsamen Europäer (und natürlich die außereuropäischen Hungerleider) von der Union abzuhalten, mit solcher Verbissenheit nachgekommen, dass es manchen Partner innerhalb der Union schon ungenehm berührte. Die aufgeklärten EU-Strategen hätten es lieber gesehen, Österreich würde seine Aufgabe noch effizienter, aber weniger leidenschaftlich erledigt und die unerwünschten Ausländer ohne Aufwallungen von Ausländerfeindlichkeit vor die EU-Tore expediert haben.Wirklich spannend wurde es jedoch, als drittens etwas Unerwartetes geschah - als die FPÖ, die tatsächlich eine brachialen Sonderfall von Xenophobie vorstellt, zur Regierungspartei wurde, ist in den EU-Partnern, die Österreich vordem zum Grenzwächter degradierten, die Besorgnis über die politische Entwicklung in ihren Ländern erwacht. In dieser Besorgnis, die sich in den Sanktionen gegen Wien manifestierte, liegen Gefahr und Chance dicht beieinander. Die Gefahr ist, dass die EU sich in der Schelte Österreichs darüber hinweg schwindelt, dass sie es selbst ist, die Ausgrenzung praktiziert und in vielen Regionen auch Ausländerfeindlichkeit produziert. Die Gefahr ist, dass die EU zwar Österreich ermahnt, sich endlich kritisch seiner Vergangenheit zu stellen, sich aber im nimmermüden Geschwafel von den »europäischen Werten« zugleich die eigene, die ebenso notwendige Auseinandersetzung mit der europäischen Vergangenheit schlicht erspart. Oder hat nur einer der EU-Spitzenpolitiker in diesem Kontext die Tradition des Kolonialismus oder den ureuropäischen Wert der Raffgier angesprochen?Kurz, die Gefahr war wohl, dass die EU, indem sie Österreich Verstöße gegen den Wertekanon vorwarf, sich selbst heilig sprach. Die ganze schöne Kritik an Österreich - so berechtigt sie ist - taugt also nur etwas, wenn sie den Anlass zu einer europäischen Selbstkritik abgibt. Aber die 14 der EU heben die Sanktionen gegen Österreich lieber wieder auf, als sich ernsthaft zu einer überfälligen Auseinandersetzung mit den »europäischen Werten« und der Blutspur zu bequemen, die diese durch die Geschichte zogen,Überhaupt sehe ich niemanden, auch nicht bei den österreichischen oder gar deutschen Grünen, der eine solche - europäische - Selbstkritik noch im Sinn hätte. Im Gegenteil, der Aufstieg der Freiheitlichen hat bei den Gegnern der ÖVP-FPÖ-Koalition zu einem Konformismus geführt, der sich eine Kritik an den »europäischen Werten« gar nicht mehr zu erlauben wagt. Als hätte die FPÖ mit ihren Ausfällen gegen die EU allen den Mut genommen, sucht jetzt ein jeder seinen Platz im Komitee zur Untersuchung anti-europäischer Umtriebe einzunehmen und den anderen in beflissenen Bekundungen von »Europareife« und »Europatreue« zu übertrumpfen. Worum es in diesem Konflikt geht, ist meinem mazedonischen Freund übrigens nur schwer zu vermitteln: So wie er die EU kennen gelernt hat, hält er die politische Entwicklung in Österreich gerade jetzt für durchaus europäisch.Der Schriftsteller Karl Markus Gauss reist im Rahmen eines Buchprojektes seit einigen Jahren zu den kleinsten sprachlich-kulturellen Gruppen Europas.
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