Kindheit - eine Erfahrung von Fremdheit

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Soviele Menschen lassen negative Erinerungen an ihre eigene Kindheit nicht zu, weil sie wahrscheinlich dann das Gefühl hätten, dass sie sich selbst den Boden unter den Füßen wegzögen. Aus meiner Sicht eines inzwischen 57-Jährigen kann ich nur annehmen, dass diese Menschen eine tiefgreifende Psychotherapie nötig haben!

Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich mich als Fremden unter Fremden. Sehr fremd sind mir dabei meine Eltern, mein sozialer Vater ( der mutmaßlich nicht mein leiblicher war! ) etwas weniger als meine unbestritten leibliche Mutter.

Andere Menschen hatten lange über mich zu bestimmen, obwohl ihnen vollkommen unbekannt war, was mir wohltäte! Ohne eigene Qualifikation für das Erziehen und mit sehr vielen eigenen Problemen belastet, versuchten sie, sich meiner anzunehmen. Und damit nicht genug: Obwohl ihre Liebe und Kraft nicht mal für mich alleine reichten, bekam ich dann auch noch einen Bruder ( von allen Fremden neben mir der mir fremdeste ). Wenn also eine sowieso schon nicht hinreichende Liebe auch noch durch zwei geteilt werden soll, kommt nicht eine halbe Liebe für jeden heraus ( so mathematisch ist das Leben eben nicht!), sondern - was das geliebt werden wollen betrifft - ein Dauerzustand des Hungerns nach Liebe. Und dieser Hunger, wenn er in der Kindheit gründet, lässt sich niemals mehr stillen.

Deshalb fordere ich, dass zukünftige Eltern

1. sich umfassend für das Erziehen qualifizieren sollten und dies durch ein Zertifikat nachweisen sollten und

2. in der Regel nicht mehr als ein Kind bekommen sollten, denn für mehr als eines reicht die Kraft in der Regel nicht aus.

Und allen Menschen, die von sich behaupten, sie hätten eine schöne Kindheit gehabt, rate ich dringend zu einer langfristigen Therapie. Jeder schleppt die Versäumnisse der Eltern, die Kriegserlebnisse und die Schuld der Großeltern und die Unterdrückung, den Hunger und die Demütigungen der Urgroßelten mit sich herum. Man muß nicht zwingend an die Mehrgenerationen-Familientherapie und deren wissenschaftliche Erkenntnisse denken, um dies für sich verifizieren zu können.

Wenn nur noch befähigte Eltern Kinder bekämen, wäre die Welt eine andere!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

karlsand

freier Autor, Flaneur

Autor, der sich langsam wiederfindet

karlsand

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden