Arbeit am Mythos

Film Die Debatte über Antisemitismus in der Zeit der Nazis ist in Polen noch jung – und wird im Kino doch bereits vehement geführt
Ausgabe 17/2014

Ihre ganze Jugend lang war Ida davon überzeugt, dass sie das Waisenmädchen Anna ist, das seine Berufung im Lob Gottes und seine Bestimmung im Gehorsam des Ordens findet, in dem es 1962 lebt. Ein Treffen mit der bislang unbekannten Tante, einer stalinistischen Richterin (Agata Kulesza), ändert das Leben der Novizin (Agata Trzebuchowska) radikal. „Du bist Jüdin“, erklärt die Tante, und dass die Eltern unter den Nazis ermordet wurden. Mit dem neuen Namen eröffnet sich eine neue Welt, in der Liebe und Verlangen eine Rolle spielen, aber auch großes Leiden. Ida heißt der Film von Paweł Pawlikowski, der seit dem 10. April in den deutschen Kinos läuft.

Mit der Enthüllung des Mords an Idas Eltern verbindet sich die Frage nach einer polnischen Schuld. Das geschieht nicht zum ersten Mal; es wurde in Polen in den letzten Jahren häufiger nach dem eigenen Antisemitismus in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus geforscht. Begonnen hatte die Debatte im Jahr 2000 mit dem Buch Sasiedzi (Die Nachbarn) von Jan Tomasz Gross, das die Ermordung der jüdischen Einwohner von Jedwabne durch polnische Mitbürger im Jahre 1941 beschrieb. Das Ende der Legende von der polnischen Unschuld während der deutschen Barbarei kam relativ spät.

Unmittelbar nach der Transformation von 1989 war für diese Auseinandersetzung kein Platz. Die nationale Freude trübten bis dato nur Dokumentaristen wie Paweł Łoziński (Miejsce urodzenia, Geburtsort, 1992) oder Agnieszka Arnold, deren Recherchen in den neunziger Jahren Anregung für Gross waren, auch wenn ihr Film Sasiedzi erst nach dem gleichnamigen Buch fertig wurde (2001). Die Filme erreichten aber nur eine kleine Öffentlichkeit.

Patriotisch-konservativ

So brauchte das polnische Kino eine weitere Dekade, um das Thema zu bearbeiten. Dann aber umso intensiver. Pokłosie (Nachlese, 2012) von Władysław Pasikowski verursachte den größten Streit. Die Geschichte zweier Brüder, die von einem Massenmord an Juden in ihrem Dorf erfahren und mit dem Wissen, dass der Vater daran beteiligt war, weiterleben müssen, zielte mitten ins polnische Selbstverständnis. Die rechtsorientierte Presse und der nationalpatriotisch-konservative Teil der Gesellschaft warfen dem Film eine übertriebene Darstellung vor und ließen kein gutes Haar an Hauptdarsteller Maciej Stuhr.

Zur gleichen Zeit entstanden weitere Filme, die das polnisch-jüdische Verhältnis auf verschiedene Weise kommentierten. Ein junger Pole, der sich wie die Protagonisten in Poklosie mit den Taten der Familie auseinandersetzen muss, kommt in dem Film Sekret (Geheimnis, 2o12) von Przemysław Wojcieszek vor. Ein Jahr zuvor war W ciemności (In der Finsternis) von Agnieszka Holland erschienen – die Geschichte des Leopold Socha, der anfangs für Geld, später aus Überzeugung einer Gruppe von im Lemberger Kanal versteckten Juden hilft. Von den unterstützenden Polen in der Zeit der Verfolgung erzählen auch W ukryciu (Heimlich, 2013) von Jan Kidawa-Błoński und Pepe Danquarts letzte Woche gestartete Koproduktion Lauf Junge, lauf. Diese Filme wurden in den polnischen Medien weit wärmer aufgenommen als Poklosie.

Nicht beantwortet ist damit die Frage, warum erst jetzt, fast 70 Jahre nach Ende der Shoa, das Thema in populärkulturellen Erzählungen verhandelt werden kann. Ausschlaggebend ist sicher die in Polen hartnäckige Überzeugung, dass man nach 123 Jahren der Besatzung und zwei totalitären Regimen über die eigene Geschichte nur aus einer Perspektive erzählen kann – wer Opfer und wer der Täter ist, das war in Polen immer klar. Es brauchte Jahre, diese identitätsstiftende Erzählung zu korrigieren, sagt die Filmkritikerin Karolina Sulej.

Dabei spielt der Generationswechsel eine entscheidende Rolle. Die jungen Polen haben ein anderes historisches Bewusstsein vom Zweiten Weltkrieg: weniger emotional, mehr an Fragen orientiert. Es verbindet sie die Haltung, dass ein kritischer Blick wie eine gute Psychotherapie nicht „Nestbeschmutzung“ bedeutet, sondern, im Gegenteil, die eigenen Wurzeln durch die Arbeit am nationalen Mythos besser verstanden werden können. Was letztlich das Selbstbewusstsein stärkt.

Tief und ergreifend

Der Film Ida setzt in dieser Debatte einen neuen Akzent. Nach dem therapeutischen Schock durch Poklosie bearbeitet er tief und ergreifend die Schuldfrage anhand von zwei vom Leben gebrochenen Frauen. Pawlikowski bezieht die Kraft seines Ausdrucks nicht aus drastischen Szenen, er bewirkt sie durch Eleganz und Feinheit: durch Schwarzweißbilder, das 1:1,37-Retro-Format und die unbewegte Kamera, durch eine geschmackvolle Erotikszene und die vielleicht sanfteste Selbstmorddarstellung im Kino der letzten Zeit. Ida drängt sich formal nicht auf und ist in seiner Moral weit entfernt davon, stigmatisieren oder urteilen zu wollen. Dass zu den vielen Preisen, die der Film gewonnen hat, der wichtigste polnische gehört, ist ein Beleg – für das veränderte Denken der Polen über sich selbst.

Ida Paweł Pawlikowski DK/PL 82 Min. Lauf Junge, lauf Pepe Danquart D/F/PL 2013, 100 Min.

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