Schrei nach Beachtung

Jugend & Literatur Die 17-Jährige Helene Hegemann sorgt mit ihrem Skandalroman "Axolotl Roadkill" für Aufsehen. Was sagt eine fast Gleichaltrige dazu?

Es gilt als das neue Skandalbuch. Aggressiv, provokant, widerlich und skrupellos. So lauten einige Aussagen über den Roman Axolotl Roadkill von Helene Hegemann, einer 17-Jährigen. Die Kritiker sind irritiert, feiern die Autorin aber zugleich als neue Stimme der „Generation der Nullerjahre“.

Das Buch handelt von einem 16-jährigen, drogenabhängigen, sexbesessenen, verzweifelten Mädchen. Es schwänzt die Schule aus Überzeugung, kritisiert die Gesellschaft und verzweifelt an der Tatsache, dass die Erwachsenen den Jüngeren die Zukunft rauben. Axolotl Roadkill ist ein gutes Buch, intelligent, kritisch, mit einer eigenen Sprache. Natürlich ist die Handlung ein wenig weit hergeholt, aber sie enthält Wahrheiten.

Ich bin selbst erst 16. Mit der Protagonistin von Hegemanns Buch kann ich mich allerdings kaum identifizieren. Eventuell weil ich Typ „Langweilig“ bin und noch andere Interessen habe, als Parties zu feiern, mich mit erfundenen Geschichten wichtig zu machen oder mich – wie einige meiner Freunde – stundenlang zu besaufen.

Aber ich kenne trotzdem die Probleme, mit denen sich die Protagonistin rumschlägt. Nicht in dieser extremen Form, aber sich unverstanden fühlen, gegen alles aufbegehren wollen, viele Dinge einfach zum Kotzen finden und sich von der Masse abheben wollen – diese Gefühle sind mir sehr vertraut.

Bisher besprachen das Buch nur 30- bis 50-Jährige, die diese Zeit, in der man gegen alles rebelliert und alles ausprobiert, schon eine Weile hinter sich gelassen haben und von denen manche der Welt in langen Artikeln verklickern wollen, dass dieses Buch ethisch nicht vertretbar sei, unrealistisch und moralisch verwerflich. Möglicherweise liegt das auch daran, dass die Kritiker Hauptfigur und Autorin gleichsetzen – und dabei ganz vergessen, dass es sich um einen Roman handelt.

Die Sprache ist aggressiv

Woran könnte es sonst liegen, dass das Buch so scharfe Reaktionen hervorruft? Die Protagonistin spricht eine andere Sprache. Die Wortwahl mag für Ältere aggressiv und kränkend erscheinen. Aber Leute, so spricht die Jugend: Fotze, Kacken, Ficken, Kotzen. Man könnte die Aufzählung noch weiterführen. Am Ende jeder Wortmeldung ein „Alter“, am Anfang ein Kraftausdruck. Scheißtraurig, aber das ist Tatsache, Alter.

Wenn sich die Damen und Herren der Achtziger, Siebziger, Sechziger, Fünfziger Jahre einfach mal auf die Straße begeben könnten und der Jugend beim Quatschen zuhören würden, wäre klar, dass die nun mal so sprechen, nicht überall und auch nicht ständig, aber zumindest wenn man unter sich ist.

Dann sind es die detaillierten Sexszenen? Also bitte. Seit wann gilt Sex noch als Tabu? Pornos im Netz nur zwei Klicks entfernt, Promis reden ständig drüber – und die Jugend eben auch. Hier wurden die Gedanken nur zu Papier gebracht. Freie Meinungsäußerung oder nicht? Ihr Erwachsenen habt Sex sells doch erfunden.

Gewalt, sexuelle Abhängigkeit. Keine schönen Themen, wohl wahr. Und im Buch auch als ziemlich normal dargestellt, aber nicht verherrlicht. Nirgendwo im Text steht, dass Gewalt gut ist und man sie praktizieren soll. Warum also der Aufschrei?

Nein, der Skandal liegt im Subtext des Buches. Die Themen drumherum sind einfach Dinge, mit denen sich ein junger Mensch beschäftigt. Hegemann geht nur ins Extrem. Aber der Subtext ist Hilflosigkeit, gemixt mit Verzweiflung, Angst und Melancholie.

Mifti, so heißt die Hauptfigur, verlor ihre Mutter. Eine schreckliche Mutter, aber immerhin ihre Mutter. Das Mädchen ist hilflos, da sie in der erfundenen, aber auch sehr realistischen Welt Hegemanns nicht zeigen kann, was in ihr vorgeht. Mifti schmeißt sich Drogen ein und schläft mit älteren Männern, um ihre Sorgen zu vergessen. Ihre Skrupellosigkeit ist ein Akt des Hasses und der Selbstzerstörung. Weil die Mutter gestorben ist und ihren ganzen Mist in der Gefühlswelt der Tochter hinterlassen hat. Mifti zieht in die verwahrloste Wohnung ihrer Halbgeschwister, und wie die Wohnung, verkümmern auch Miftis Zukunftsgedanken, Hoffnungen, Glücksgefühle.

Der Skandal trägt den Namen: Drüber-hinwegsehen. Genau das tun die Charaktere in Axolotl Roadkill und auch die Menschen in der wirklichen Welt bei Themen, die junge Menschen verzweifeln lassen: Sexuelle Orientierung, Ängste, Feindseligkeiten, falsche Hoffnungen. Der Egoismus, im Umgang mit anderen Menschen nur anzuerkennen, was einem gegeben wird, nicht aber was man selbst zurückgeben könnte.

Ein Axolotl ist ein Salamander, der sein Leben lang im Lurchstadium bleibt. Der Peter Pan der Tierwelt also, er wird nicht erwachsen. Roadkill werden im Amerikanischen angefahrene Tiere genannt. Wie anders kann man den Buchtitel interpretieren, wenn nicht als Beschreibung eines Jugendlichen mit vielen Problemen, der keine Zukunft mehr hat.

Lernt die Jüngeren kennen!

Eine Bitte an die älteren Mitmenschen: Lernt die jüngeren richtig kennen, hört ihnen zu. Durch die Erfindungen der Erwachsenen – Internet, Handys, PC-Spiele, TV – werden den Jüngeren Beschäftigungen gegeben. Die können aber die Aufmerksamkeit der Eltern nicht ersetzen. Wohlstandsverwahrlosung als Grund für Orientierungslosigkeit und verzweifelte Taten.

Oder wie es im Buch heißt: „Ich halte dich wohl für jemanden, der Aufmerksamkeit erregen will mit Extremen, der egozentrisch ist und seine Probleme oder sein Innerstes den Leuten ins Gesicht schleudert, um sich kurzfristig zu befreien und die Reaktionen genießt und braucht.“ Noch Fragen, Alter?

Karoline Hill, geboren 1993, lebt in Berlin und besucht regelmäßig die 10. Klasse eines Gymnasiums in Pankow

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