1919: Fidele Geiselnahme

Zeitgeschichte In Würzburg proklamiert der Schreiner Anton Waibel die Räterepublik und verhaftet einige reiche Bürger. Es gibt Zigarren und Wein. Die Rache von rechts ist gnadenlos
Ausgabe 14/2019

In der Erinnerung der Würzburger mag die Revolution von 1918/19 kein wirklich präsentes Ereignis sein. Ein Vorfall aber hat sich ins historische Gedächtnis der Stadt gebrannt: die Geiselnahme von 16 gut betuchten Bürgern in der Nacht zum 8. April 1919. Wie im Foyer des Würzburger Rathauses eine Tafel verrät, handelte es sich dabei offenbar um die Konsequenz einer Schreckensherrschaft, von der man über Generationen hinweg bis heute gegen den Kommunismus aufgebracht wurde. Adressat der Verdammung ist der damals 30-jährige Anton Waibel, die Stimme des Revolutionären Aktionsausschusses.

Noch am Abend des 7. April 1919, gegen 19 Uhr, hat der schwäbische Schreiner seine große Stunde auf dem damaligen Neumünsterplatz respektive dem Dach der Fahrerkabine eines Lastwagens erlebt. Ein Foto zeigt ihn in revolutionärer Pose: den Arm nach oben gestreckt und in die Zukunft weisend, die andere Hand lässig in der Hosentasche. Es ist der Augenblick, als in Würzburg die Räterepublik ausgerufen wird. Womit für die Stadt in Unterfranken die am gleichen Tag in München proklamierte bayrische Räterepublik quasi bestätigt wird. (Die vom Landtag gewählte Regierung des SPD-Politikers Johannes Hoffmann ist nach Bamberg geflohen, aber nicht zurückgetreten.) Eine größere Menschenmenge hat sich auf dem Platz versammelt, etwa 3.000 begeisterte Anhänger sollen es gewesen sein. Ob ihr Jubel Waibels Programm gilt oder seinem Charisma, lässt sich nicht mehr feststellen. Auch bleibt der Wortlaut seiner Rede verschollen. Angeblich hat Waibel verlangt, die Hausbesitzer zu enteignen und den bäuerlichen Grundbesitz gleich mit, soweit dieser nicht von einer Familie allein bewirtschaftet wird. Vieles spricht dafür, dass Waibel in diesen Minuten wirklich geglaubt hat, die Bürger der Stadt könnten der Revolution mehrheitlich etwas abgewinnen, ebenso die am Ort stationierten Soldaten.

Neben dem in Würzburg geborenen Friedrich Hornung, gelernter Mechaniker und Kampfflieger im Ersten Weltkrieg, wird Waibel zur prägenden Gestalt dieser Räterepublik. Die Zeitungen schreiben, er sei der „Russe Wessow“, obwohl bekannt ist, dass Waibel in Württemberg als Sohn eines Schmieds geboren wurde. Ähnlich ist zuvor schon der am 21. Februar 1919 von einem rechtsextremen Studenten ermordete Kurt Eisner behandelt worden. Der sei zwar bayerischer Ministerpräsident, heiße in Wahrheit aber Samuel Kosmanowski und stamme aus Galizien. Das bekannte Narrativ der Manipulation läuft auf die Verleumdung hinaus, landfremde Agitatoren hätten in Bayern die brave, gottgläubige Bevölkerung aufgewiegelt.

Ein Blick auf die Lebensverhältnisse lässt hingegen wissen, dass die Stimmung gereizt ist, weil die Preise für Nahrungsmittel mit dem Krieg um 100 Prozent und mehr gestiegen sind, während sich die Durchschnittslöhne der Arbeiter um bestenfalls 30 Prozent erhöht haben. So wird aus Armut Elend und im Frühjahr 1919 die Lage immer bedrückender. In Würzburg blüht der Schleichhandel, und die meisten Arbeiterfamilien sind auf rationierte Zuteilungen angewiesen – im Schnitt 50 Gramm Wurst, 190 Gramm Fleisch pro Person und Woche, wenn nicht gerade eine vollends fleischlose Woche angesetzt ist.

Die Wohlhabenden und Zahlungskräftigen freilich können sich auf dem freien Markt mit dem eindecken, was sie brauchen. Von Tag zu Tag wächst der Unmut, auch ohne ortsfremde Agitatoren. Noch katastrophaler sieht es bei der Wohnungsfrage aus. In allen bayrischen Städten müssen Tausende aus dem Frontheer entlassene Soldaten einquartiert werden. Und gerade die am wenigsten begüterten Familien, bei denen es sich oft um die kinderreichen handelt, werden nun erst recht auf engstem Raume zusammengepfercht, während zur gleichen Zeit die Villen in Würzburg beinahe leerstehen. Inwieweit dadurch für die Stadt eine revolutionäre Situation entsteht, lässt sich schwer sagen. Den Versuch revolutionärer Kräfte, die Macht zu übernehmen, hat es jedenfalls gegeben.

Im Blick auf 1918/19 sprechen Historiker heute von einem Pluralismus revolutionärer Phänomene. So war Toni Waibel zwar Mitglied der KPD, jedoch nicht von seiner Parteiführung nach Würzburg geschickt worden; die lehnte zu diesem Zeitpunkt die „Scheinräterepublik“ vehement ab. Waibel agierte im Auftrag des Münchner Zentralrats der Arbeiter- und Soldatenräte, er konnte sich durch Männer wie Ernst Toller und Erich Mühsam autorisiert fühlen. Der eine, seinerzeit noch ein eher unbekannter Dichter, war USPD-Chef in München, der andere ein bekannter Anarchist. Anton Waibel selbst hatte sich während des Weltkrieges im Schweizer Exil zunächst den Sozialrevolutionären angeschlossen.

Generell sei Waibels Vorgehen in Würzburg „militant, aber in keiner Weise inhuman“ gewesen, schreibt der Historiker Ulrich Weber. Deutlich werde das am Bericht einer der 16 Geiseln, des Großkaufmanns Seißer, der – als Belastungsmaterial für einen Prozess gegen Waibel gesammelt wurde – eher Aussagen zu dessen Verteidigung getroffen habe. Philipp Seißer war in der Nacht zum 8. April 1919 in seinem Haus verhaftet und in die Residenz gebracht worden, wo er mehrere angesehene Würzburger – Hofräte, Offiziere, Mitglieder des Magistrats sowie einen Universitätsprofessor – antraf, die ebenso festgesetzt waren. Und wie der Kaufmann später dem Gericht erzählte, sei die Unterhaltung in dieser Runde „eine sehr anregende und fidele“ gewesen, an der auch die Wachmannschaften teilnahmen. Am nächsten Morgen erhielten die Gefangenen von der Frau des Schlossverwalters ein für die Verhältnisse geradezu luxuriöses Frühstück. Auch habe man sich die gereichten Zigarren und Zigaretten sehr gut schmecken lassen. Zu allem Überfluss hätten die Geiseln dann noch sechs Bocksbeutel zugeteilt bekommen, so dass sie den Vormittag – an dem sie Besuch empfangen durften – in „angeregter Unterhaltung“ verbrachten. Gegen Mittag aber, als es ihm zu dumm wurde, verließ Seißer das Gefangenenzimmer durch eine Seitentür und drang bis zu Anton Waibel vor, um zu klagen: Er stehe kurz vor dem physischen und psychischen Zusammenbruch. Woraufhin Waibel ihn nach Hause schickte. Keiner Geisel wurde ein Haar gekrümmt, wohingegen Waibel später bei seiner Gefangennahme fast zu Tode geprügelt wurde.

Um die Würzburger Räterepublik war es geschehen, als sich am 9. April 1919 zwei kleine Gruppen von jeweils gut 200 Mann ein heftiges Gefecht vor allem um den Bahnhof lieferten, sodass es Tote auf beiden Seiten gab. Ein einzelner Matrose hatte eine Stunde lang mit dem Maschinengewehr die angrenzende Kaiserstraße in Schach gehalten.

Schließlich verurteilte ein Würzburger „Volksgericht“ Anton Waibel als den Hauptschuldigen des Aufruhrs zu 15 Jahren Festungshaft, seine beiden Mitangeklagten zu acht und zwölf Jahren. Im Jahr 1921 gelang Waibel die Flucht aus der Festung Niederschönenfeld in Richtung Sowjetunion, aus der er im Zuge der „Hindenburg-Amnestie“ von 1928 nach Deutschland zurückkehrte. Er wurde Sekretär der Roten Hilfe und Referent an den Parteischulen der KPD. Die Nazis steckten ihn 1933 ins Gefängnis, später in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald. Nach seiner Befreiung 1945 ließ sich Waibel in einem der Westsektoren Berlins nieder, wo er anfänglich noch verschiedene Funktionen in der KPD, ab 1946 der SED innehatte.

Als unorthodoxer Kommunist wandte er sich vehement gegen die Stalinisierung der Partei ab 1948, was ihm zum Verhängnis werden sollte. Sein Nimbus als Veteran der Novemberrevolution, der im Schweizer Exil noch Lenin kennengelernt hatte, schützte ihn nicht davor, im April 1955 aus der SED mit der Begründung ausgeschlossen zu werden, er habe im Lager Dachau als Organisator einer trotzkistischen Gruppe „antisowjetische Hetze“ betrieben, die sich „besonders gegen den Genossen Stalin und die bolschewistische Partei“ gerichtet habe. Anton Waibel verstarb am 12. Februar 1969 in Westberlin.

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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