1919: Sieger wider Willen

Zeitgeschichte Ein Poet beschert der Münchner Räterepublik in Dachau unverhofft einen militärischen Sieg. Dabei hat der Kommandeur Ernst Toller eher eine Feuerpause ausgehandelt
Ausgabe 16/2019
Ernst Toller im Festungsgefängnis Niederschönenfeld
Ernst Toller im Festungsgefängnis Niederschönenfeld

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Erich Wollenberg, einer seiner Offiziere, ließ kein gutes Haar an Ernst Toller, dem expressionistischen Dichter, der am Theater der 1920er Jahre noch großes Aufsehen erregen sollte. Im Frühjahr 1919 sei Toller ein miserabler militärischer Führer gewesen, ein durch die Gräuel des Weltkrieges „irre gewordener Poet“. Weshalb diese Schmähung?

In den Wochen der Münchner Räterepublik führte der damals 25-jährige Toller nordwestlich von München das Kommando über die dortige Rote Armee. Deren Stab sei durch diesen Pazifisten, so Wollenberg später, „zu einer arbeitsunfähigen, literarisierenden und politisierenden Schwatzbude gemacht worden“. Jeder systematische militärische Dienst sei als „Militarismus und Ludendorfferei“ verpönt gewesen. Es habe keine Befehle gegeben, nur Anweisungen, die keiner befolgen musste. „Falls sich Kommandeur und Rotarmist über irgendwelche Fragen nicht einigen konnten, wurden die Soldatenräte als Vermittler durch alle Instanzen hindurch angerufen. Oder die Truppe löste die Frage ‚demokratisch‘, indem sie einfach darüber abstimmte.“ Verantwortlich für derartige Prozeduren sei Ernst Toller gewesen.

Der war zeitweilig bayrischer USPD-Vorsitzender und in den Tagen der Novemberrevolution 1918 einer der führenden Köpfe im Münchner Zentralrat der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Für die Zeit der Räterepublik, ausgerufen in München am 7. April 1919, steht Tollers Name – für einen radikalen Pazifisten durchaus bemerkenswert – für den einzigen größeren militärischen Erfolg der Linken während der Revolutionszeit 1918/19 im Süden Deutschlands. Gemeint ist die Eroberung Dachaus am 16. April 1919, die Befreiung der Siebentausend-Einwohner-Stadt von den „Weißen Garden“.

Doch der Reihe nach: Am Nachmittag des 15. April 1919 sorgte im räteregierten München die Nachricht für Unruhe, dass von Dachau her die Truppen der Konterrevolution anrückten. Sie kämen in Gestalt einer etwa 800 Mann starken Einheit. Größtenteils handelte es sich bei diesen Verbänden um die gleichen Soldaten, die zwei Tage zuvor beim sogenannten Palmsonntagsputsch eine herbe Niederlage einstecken mussten. Der Versuch, München unter ihre Kontrolle zu bringen, war am Hauptbahnhof kläglich und für alle Beteiligten sehr blutig gescheitert. Die Putschisten hatten danach mit dem Zug fliehen können. Den Linken war es jedoch nicht gelungen, ihre Genossen – die festgenommenen Mitglieder des Zentralrats – zu befreien, unter ihnen der Dichter Erich Mühsam.

An jenem 15. April nun strömten Dutzende von kleinen revolutionären Gruppen an den nordwestlichen Stadtrand von München, um dort Schützenketten zu bilden. In kurzer Zeit wuchs die Truppe auf gut tausend Mann. Im Gasthaus zu Karlsfeld versammelten sich die Vertrauensleute. „Der Toller soll die Führung übernehmen!“, hieß es. Der war im Ersten Weltkrieg immerhin Artillerieunteroffizier. Man erinnerte sich des Ausspruchs: „Oana muaß sein Kohlrabi herhalten, sonst gibts an Saustall, und wennst nix vastehst, wirst es lerna, die Hauptsach is, dich kennen wir.“

Die Bewaffneten um Ernst Toller rekrutierten sich vorzugsweise aus demobilisierten Soldaten und gerade entstandenen Arbeiterwehren. Hinzu kam eine nennenswerte Zahl einstiger russischer Kriegsgefangener, die freiwillig einer Einheit beigetreten waren. Diese Infanteristen verteilten sich in einer Stärke von 800 Mann auf fünf Sturmbataillone, die Gewehre und Maschinengewehre mit sich führten. Flankiert wurden sie durch 60 Mann Artillerie mit sechs Geschützen und einem Nachrichtentrupp mit 40 Soldaten, dazu kamen noch 40 Pioniere, eine Abteilung von 20 Radfahrern und zu guter Letzt 15 Reiter.

Am 16. April 1919 erhielt Toller in seinem Hauptquartier Karlsfeld aus München den Befehl, Dachau mit Geschützen zu beschießen, was er wegen der zu erwartenden zivilen Opfer strikt ablehnte. Um Blutvergießen zu vermeiden, vereinbarte er mit dem Gegner eine Waffenruhe von zwölf Uhr mittags bis sechs Uhr abends, gebunden an einen Rückzug der weißen Truppen bis hinter die Donaulinie, die Freilassung der am 13. April entführten Mitglieder des Zentralrats sowie die sofortige Aufhebung der gegen München verhängten Hungerblockade. Auf einmal, nachmittags um vier Uhr, krachten die Geschütze. Toller glaubte zunächst, die Gegenseite hätte die Vereinbarung gebrochen, tatsächlich waren es Kanoniere der Roten Armee, die sich nicht mehr an die Feuerpause halten wollten. Kurz darauf begannen die Rotgardisten mit dem Vormarsch – ohne Tollers Befehl! Später sollte es heißen, ein Provokateur habe Kanonade und Angriff befohlen. „Was sollte ich tun?“, schrieb der Dichter 1933 in seinen Erinnerungen. Mitten im Gefecht den Rückzugsbefehl zu geben, sei nicht möglich gewesen. Stattdessen galt es, die vorrückenden Truppen zu unterstützen. Alles lief auf ein Blutbad hinaus, dann jedoch geschah das Unglaubliche: Arbeiterinnen der Dachauer Munitionsfabrik fielen den Weißgardisten in den Rücken und beschimpften die Kanoniere. Andere Arbeiter eilten ihnen zu Hilfe. Toller: „Sie entwaffnen die Truppen, treiben sie vor sich her und prügeln sie aus dem Dorf hinaus. Der Kommandant der Weißen rettet sich auf einer Lokomotive.“ Die gegnerischen Truppen wichen schließlich bis in das 30 Kilometer weiter nördlich gelegene Pfaffenhofen zurück.

Bei dem Gefecht waren fünf weiße Offiziere und 36 Soldaten in Gefangenschaft geraten. Ein Kurier überbrachte aus München den Befehl, die Offiziere vor ein Standgericht zu stellen, zu verurteilen und zu erschießen. Toller vermerkte dazu 1933: „Ich zerreiße den Befehl, Großmut gegenüber dem besiegten Gegner ist die Tugend der Revolution ...“

Die verhafteten Offiziere wurden zur „Ehrenhaft“ nach München überstellt, während sich die gefangenen Soldaten frei bewegen durften und wie Angehörige der Roten Armee verpflegt wurden. „Es sind irregeleitete Brüder“, schreibt Toller. Bald schon sollen die „Brüder“ entscheiden, ob sie bleiben oder heimkehren wollen. „Mögen die Gesetze des Bürgerkriegs noch so brutal sein, ich weiß, die Konterrevolution hat in Berlin rote Gefangene ohne Schonung gemordet, wir kämpfen für eine gerechtere Welt, wir fordern Menschlichkeit, wir müssen menschlich sein“, notiert der Dichter. Und einen Absatz später lesen wir: „Die gefangenen Soldaten, die in die Heimat zurückkehrten, kämpften einige Tage später wieder gegen uns.“ Noch bestand Hoffnung, niemand konnte sich vorstellen, dass eine bayrische Regierung, selbst wenn sie nach Bamberg geflohen war, Preußen einmarschieren lassen würde: die rechtsradikalen Freikorps, entsandt von Gustav Noske (SPD), dem Reichswehrminister unter dem „Reichsministerpräsidenten“ Philipp Scheidemann (SPD).

Nachdem die Münchner Räterepublik am 2. Mai 1919 unterlag und tagelang Freikorpsverbände ihren Terror in die Arbeiterviertel trugen, dem über 500 Menschen zum Opfer fielen, entging Ernst Toller nur knapp der Todesstrafe. Nach prominenter Fürsprache durch Thomas Mann und Max Weber, der seinen ehemaligen Studenten als „radikalen Gesinnungsethiker“ bezeichnete, verurteilte ihn ein Gericht wegen Hochverrats zu fünf Jahren Festungshaft. In seiner Zelle schrieb Toller seine wichtigsten Dramen, wie Masse Mensch, Hinkemann und Der entfesselte Wotan. Sein Anwalt, der USPD-Vorsitzende Hugo Haase, hatte im Prozess sein Plädoyer mit den Worten enden lassen: „Wenn die Namen mancher Personen, die heute nicht ohne Einfluss sind, längst verklungen sein werden, wird (…) Tollers Name in dem noch fortleben, was er aufgrund seiner dichterischen Begabung dem deutschen Volk geschenkt hat.“

Doch kehrte Toller diesem Volk schon vor 1933 den Rücken und fand in den folgenden Jahren vorübergehend Zuflucht in der Schweiz, in Frankreich und Großbritannien, bevor es ihn nach Kalifornien verschlug. Keine neue Heimat, nur das nächste Überleben im nächsten Exil, bis er sich am 22. Mai 1939 in einem New Yorker Hotel das Leben nahm.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

Avatar

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden