1920: Der Feldprediger

Zeitgeschichte Martin Niemöller, die spätere Ikone der Friedensbewegung, führt ein rechtes Freikorps-Bataillon an und zieht in den Kampf gegen Rote Ruhrarmee und „Spartakisten“
Ausgabe 14/2020

Er gilt bis heute als Ikone der Friedensbewegung. Berühmt sein Zitat: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten ...“ – bis sie eines Tages Niemöller holten und niemand mehr da war, der protestieren konnte. Bekannt ist auch sein Aperçu aus dem Jahr 1950: „Vielleicht werden die Kommunisten und die Freudenmädchen das Himmelreich vor den Christen des Westens sehen.“

Weniger bekannt dürfte dagegen Martin Niemöllers deutschnationale Vergangenheit sein: „Der Teufel hole die Juden und Genossen!“, schrieb er 1919 in einem Brief an den Bruder Wilhelm, als im protestantischen Denken Juden und Kommunisten noch irgendwie eins waren.

Den Pfarrberuf hatte der einstige U-Boot-Kommandant in jenem Jahr weniger aus religiös-pazifistischer Läuterung gewählt. Deutschland hatte den Ersten Weltkrieg verloren, der Staatsbankrott drohte, und Niemöller – der selbst aus einem Pfarrhaus stammte – zog eine sichere Anstellung in der evangelischen Kirche einer unsicheren Offizierskarriere vor. Seine militaristischen Wertvorstellungen aber hatte der damals 28-Jährige mit ins Theologiestudium in Münster genommen. In den bereits 1934 erschienenen Memoiren Vom U-Boot zur Kanzel erinnerte sich Niemöller: „Gleich zu Beginn des Semesters hatten ein paar ehemalige Offiziere begonnen, nationalgesinnte Studenten in einer deutschnationalen Studentengruppe zu sammeln; und da ich für das eigentliche Korporationsstudententum wegen meines ‚vorgerückten Alters‘ keine rechte Neigung mehr aufbringen konnte, widmete ich mich in den Stunden, die mir übrigblieben, ganz dieser Aufgabe.“ Seinem Engagement für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) schloss sich 1920 die Mitgliedschaft im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund an. Diese erste faschistische Massenorganisation in Deutschland strebte mit über 100.000 Mitgliedern und einem betont antisemitischen Programm die „völkische Erneuerung“ an, was den Kampf gegen den Bolschewismus einschloss. Und Martin Niemöller, dem 1967 in Moskau für seine Friedensarbeit der Lenin-Preis verliehen werden sollte, war bereit, Kommunisten zu töten. Im April 1920 meldete sich der Theologiestudent freiwillig bei der „Akademischen Wehr“ der Universität Münster.

In einem Erinnerungsschmöker erzählt er vom Ende des ersten Semesters, als am 13. März 1920 Telegramme über den Sturz der Regierung in Berlin eintrafen. Dort hatte das Freikorps Lüttwitz geputscht und den Generallandschaftsdirektor Kapp zum Reichskanzler erklärt. Überall im Land wurde zum Generalstreik aufgerufen, selbst an der Universität Münster. Doch mit den Worten „Unerhört so etwas!“, erinnert sich Niemöller, habe ein Professor den Zettel vom Anschlagbrett gerissen. „Aber der Generalstreik kam, und im Industriegebiet wurde die ‚Rote Republik‘ ausgerufen. Die einzige ernstzunehmende Truppe, die es damals in Münster gab, war das Korps Lichtschlag, das sofort ins Industriegebiet geworfen wurde, weil man glaubte, die Unruhe noch meistern zu können.“ Nur seien die paar hundert Mann sofort von den Aufständischen aufgerieben worden. Und: „Natürlich hatte dieser Erfolg der Spartakisten die Wirkung, dass ihnen ungeheuer der Kamm schwoll.“

Besagte Spartakisten waren mehrheitlich Unabhängige Sozialdemokraten, aber auch Syndikalisten und Kommunisten. Deren lokale Vollzugsräte stellten jetzt überall im Ruhrgebiet die Machtfrage, von der sich auch der junge Niemöller herausgefordert fühlte. Benjamin Ziemann, Geschichtsprofessor an der University of Sheffield, hat jüngst eine erste Biografie Niemöllers vorgelegt, die geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Ziemann schreibt auch über dessen Rolle in den Ruhrkämpfen – als Kommandeur eines Bataillons von 250 freiwilligen Studenten, die ins Ruhrgebiet marschierten. Nur war der Kampf bereits vorbei. Oder, wie Niemöller kolportierte: „Überall, wohin wir jetzt kamen, wurden wir als Befreier aus der Hölle des Bolschewismus begrüßt; und schlimm genug hatten die Spartakisten gehaust.“ Dass seine Truppe nicht zum Einsatz gekommen war, erklärte der spätere Pfarrer aus Berlin-Dahlem mit der Feigheit seiner Fe inde: „Nur wenige jedoch waren zu fassen: die Leute liefen längst wieder als harmlose Zivilisten herum; und nur, wenn sich unsere Leute einzeln zeigten, wagten sie, zu schießen oder sonst tätlich zu werden.“

En passant erwähnt Niemöller ein Kriegsverbrechen: „Am 7. April trafen wir auf dem Marsch nach Castrop in Mengede mit dem Korps Gabcke zusammen und mit den ‚Pfefferlingen‘ des Hauptmanns von Pfeffer. Dort sahen wir eine ganz eigenartige Methode, die gefangenen Spartakisten in sicherem Gewahrsam zu halten: man ließ sie zu vieren als erstes Glied in den einzelnen Gruppen marschieren!“ – Was für ein Spaß! Vor jeder Freikorps-Einheit wurden gefangene Kämpfer der Roten Ruhrarmee als Schutzschild hergetrieben.

Viel mehr wusste Niemöller vom Ende der Ruhrkämpfe nicht zu berichten. Schon wenige Tage später, nach einer Parade in Münster am 23. April 1920, löste sich sein Regiment auf, Niemöllers Theologiestudium war also nur für drei Wochen unterbrochen worden: „Als ich nach Hause kam, war es mir zweifelhaft geworden, ob der nationale Schwung, der in der Jugend und in den alten Frontsoldaten lebte, stark und rein genug sei, um in der kommenden Zeit ein Neues zu gestalten.“ An großen Worten fehlt es ihm nicht: „Dieser Kampf auf deutschem Boden, wobei Deutsche gegen Deutsche standen, hatte aufs Neue die tiefe Not offenbart, die seit Kriegsende als Last auf unserem Volke lag. Es fehlte an Führung, es fehlte an einem großen Ziel, es fehlte an den inneren und sittlichen Voraussetzungen für ein echtes völkisches Wollen und Handeln“, so Pfarrer Niemöller 1934 im Rückblick.

Seine Erinnerungen lassen ahnen, dass die evangelische Kirche seinerzeit beim Kampf um die Weimarer Demokratie nicht gerade an vorderster Front stand. Während Hunderttausende Juden bereits entrechtet, verfolgt oder ins Exil getrieben und unzählige Menschen ermordet wurden, sinnierte der Mitbegründer der Bekennenden Kirche vom „völkischen Wollen und Handeln“. Niemöllers Pfarrernotbund, dem zeitweilig über 7.000 evangelische Geistliche angehörten, kämpfte für die Ordinationsrechte von höchstens 100 Pastoren, denen man eine jüdische Abstammung nachgewiesen hatte. Nicht aber für die Christen an der Basis, die durch die Rassegesetze der Nazis zu „Nichtariern“ erklärt worden waren, schon gar nicht für die jüdischen Gemeinden. Dennoch brachte ihn sein Verständnis vom Auftrag der Kirche ins Konzentrationslager.

Vor Gericht verteidigte sich Niemöller 1938 mit dem Verweis auf seine Teilnahme an den Ruhrkämpfen. Sein damaliger Befehlshaber, General Oskar von Watter, bezeugte die Integrität und Staatstreue des Angeklagten. Bemerkenswert auch Niemöllers Aussage vor Gericht, dass die Juden ihm „unsympathisch und fremd“ seien. Im oben erwähnten Zitat von den abgeholten Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern ist von den Juden keine Rede, schon gar nicht davon, dass Niemöller zu ihrer Verfolgung geschwiegen hat. Im Gegenteil: Im November 1933 schrieb er in der Zeitschrift Junge Kirche zur „Arierfrage“, dass „wir als Volk unter dem Einfluss des jüdischen Volkes schwer zu tragen gehabt haben“. So verwunderte es nicht, dass er 1947 von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) zur Persona non grata erklärt wurde. Niemöller, damals stellvertretender EKD-Ratsvorsitzender, war in der VVN-Betreuungsstelle im hessischen Büdingen mit dem Vorwurf aufgetreten: „Sie unterstützen wohl nur Judenfreunde?“ Als daraufhin das Nachrichtenmagazin Der Spiegel bei ihm nachfragte, sagte Niemöller: „Ja, ich stehe dazu. Ich werde die Richtigkeit dieser Behauptung beweisen.“ Das musste er nicht.

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