1945: Nationales Weiter-so

Zeitgeschichte Allen Legenden zum Trotz gab es nach der NS-Diktatur in der evangelischen Kirche keine wirkliche Zäsur. Bischof Dibelius hielt am Nationalprotestantismus fest
Ausgabe 29/2020

Statt einer „Stunde Null“ gab es für die evangelische Kirche einen Mann der Stunde: Otto Dibelius. Vom Berliner Bezirk Zehlendorf aus rief der 1933 geschasste kurmärkische Generalsuperintendent vor 75 Jahren die alten Weimarer Positionen und Strukturen der Brandenburger Provinzialkirche wieder ins Leben. Und wie selbstverständlich reklamierte er dabei die wichtigsten Leitungsfunktionen für sich selbst. Durch einen „souveränen Akt der Selbsternennung“, so der Historiker Manfred Gailus, trug Dibelius nunmehr den Titel „Bischof von Berlin“, war Präsident des Konsistoriums, dazu Generalsuperintendent der Kurmark und – ein gesondertes Amt – Generalsuperintendent Berlins. Davon abgesehen stand Dibelius seit Kriegsende auch noch dem Evangelischen Oberkirchenrat der verbliebenen altpreußischen Rumpfkirche vor.

Zur Erinnerung: Bei Otto Dibelius handelt es sich um jenen Kirchenmann, der bei der Siegesfeier der Nazis, dem „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933, die Festpredigt hielt; danach habe ihm, wie er selbst erzählte, Hermann Göring die Hand geschüttelt, mit den Worten: „Das war die beste Predigt, die ich in meinem Leben gehört habe.“ Otto Dibelius war, wie der Historiker Saul Friedländer konstatiert, der damals prominenteste evangelische Geistliche in Deutschland. Am 4. April 1933 verteidigte er in einer Rundfunkrede, die in den USA ausgestrahlt wurde, das NS-Regime. Dibelius bestritt darin die Brutalitäten in den Konzentrationslagern und behauptete allen Ernstes, mit dem staatlich organisierten Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte am 1. April habe es sich um einen Akt berechtigter Notwehr gehandelt, der „in absoluter Ruhe und Ordnung verlaufen“ sei.

Im selben Monat hatte Dibelius als Generalsuperintendent der Kurmark in einem Rundbrief an alle brandenburgischen Pfarrer geschrieben: „Man kann nicht verkennen, dass bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum eine führende Rolle spielt.“ Und es war Dibelius, der den gefolterten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann in der Gestapohaft besucht hat. Doch geschah das nicht im Sinne des Evangeliums, Matthäus 25, Vers 36: „Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.“ In den Augen von Dibelius war Thälmann nicht der geringste unter den Brüdern Jesu, sondern ein bolschewistischer Umstürzler. In der erwähnten Rundfunkrede verkündete Dibelius daraufhin: „Wir haben die kommunistischen Führer im Gefängnis besucht. Sie haben uns übereinstimmend gesagt, dass sie durchaus korrekt behandelt würden. An den Schauernachrichten über grausame und blutige Behandlung der Kommunisten in Deutschland ist kein wahres Wort.“

Wahr ist auf jeden Fall, dass dieser Mann die evangelische Nachkriegskirche wie kein anderer prägte. Seine im deutschen Protestantismus einmalige und von der Kirchengeschichtsschreibung merkwürdigerweise überhaupt nicht hinterfragte Ämterhäufung (1949 wurde Dibelius zum EKD-Ratsvorsitzenden gewählt) lässt sich nicht allein mit der damaligen Notsituation der Kirche begründen. Zweifellos hat es in der Pfarrerschaft der Berlin-Brandenburgischen Kirche einen Mangel an Leuten gegeben, die in den Jahren zuvor nicht in irgendeiner Weise durch das NS-Regime und „Deutsche Christen“ korrumpiert worden waren. Nur ist die Ursache dafür nicht zuletzt bei Dibelius selbst zu suchen, in seinem autoritären Führungsstil.

Vom römischen Geschichtsschreiber Sallust ist die Äußerung überliefert: „aut quem alienum fidum invenis, si tuis hostis fueris?“ Was so viel heißt wie: „Welchen Fremden wirst du gewinnen, wenn du den Deinen ein Feind bist?“ Insofern muss der Umgang des Berliner Bischofs mit kritischen Geistern seiner Kirche aus heutiger Sicht als durchaus problematisch gewertet werden. Zu einem traurigen und bezeichnenden Beispiel für das unter Bischof Dibelius herrschende Klima wurde der von den Nazis 1940 des Amtes enthobene Superintendent von Berlin-Spandau, Martin Albertz. Für den Historiker Manfred Gailus war es der eigentliche „Spiritus Rector“ des Berliner Kirchenkampfes. Otto Dibelius hätte Albertz helfen können, doch er unternahm keinerlei Versuche, den Geistlichen in sein früheres Amt wieder einzusetzen.

Überhaupt wurden nach 1945 nur relativ wenige Pastoren der Bekennenden Kirche, wie etwa Heinrich Grüber und Kurt Scharf, in der Berlin-Brandenburgischen Bischofskirche auf Leitungsebene eingebunden. Manfred Gailus fragt: „Um wie viel wären die konservative Berliner Bischofskirche und ihre Nachkriegsführung kleiner geworden und moralisch geschrumpft, wenn sie im Kirchenkampf bewährte Personen wie Niemöller, Günther Dehn, Wilhelm Jannasch, Willi Ölsner, Franz Hildebrandt, aber auch Agnes von Zahn-Harnack, Elisabeth Schmitz, Elisabeth Schiemann und manche anderen freien Geister zurückgerufen hätten? Sie waren offenbar unerwünscht.“

Eine Entnazifizierung vornehmen zu wollen, ohne auf die wenigen ausgewiesenen NS-Gegner in der eigenen Kirche zurückzugreifen – das musste zum Scheitern verurteilt sein. Die Entnazifizierung in der Berlin-Brandenburgischen Kirche unter Bischof Dibelius war eine Farce. Deutlich wird dies am Fall des Berliner Propstes Walter Hoff (1890 – 1970). Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand gehörte der Konsistorialrat in der Kirchenleitung der Mark Brandenburg als „Standartengeistlicher“ zur SA und war im Krieg als Hauptmann an Massenerschießungen jüdischer Menschen beteiligt. In einem Brief vom 29. September 1943 hatte Hoff gegenüber dem Berliner Oberkonsistorialrat Horst Fichtner bekannt, „dass ich in Sowjetrussland eine erhebliche Anzahl von Juden, nämlich viele Hunderte, habe liquidieren helfen“.

Innerhalb der Kirche war der Brief des Walter Hoff spätestens seit 1946 bekannt. Dennoch konzentrierte sich das Disziplinarverfahren gegen ihn lediglich auf seine innerkirchlichen Verfehlungen als Amtsträger der „Deutschen Christen“. Hoffs Behauptung, er habe seine Beteiligung am Massenmord frei erfunden, um dem Misstrauen der NSDAP gegen seine Person etwas entgegenzusetzen, wurde von der Disziplinarkammer akzeptiert. Angeblich hatte Hoff den Überwachungsstellen des NS-Staates suggerieren wollen, weiterhin loyal zu sein. Ergo: Walter Hoff war kein Kriegsverbrecher, dessen Fall man der Justiz hätte übergeben müssen, sondern nur ein Pfarrer, der sich im geistlichen Bereich Verfehlungen hatte zuschulden kommen lassen.

Mit dem Urteilsspruch von 1949 verlor Hoff, ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher, zwar seine Rechte aus der Ordination, doch gab ihm 1958 das Berliner Konsistorium seine Pfarrrechte zurück. Ab 1960 überwies man ihm eine monatliche Rente von 540 DM. Die Kirche habe ihm nicht gleich vergeben, schreibt die Historikerin Dagmar Pöpping, sondern die für sie härteste denkbare Strafe, die Entlassung aus dem Amt und den Verlust der Rechte des geistlichen Standes, verhängt. „Sie brauchte zwölf Jahre, um schließlich doch noch den ‚Mantel vergebender Liebe‘ über die Selbstbezichtigung Walter Hoffs zu decken. Der Gedanke, dass es hier um ein reales Verbrechen gegangen sein könnte, blieb ein Tabu. Möglicherweise fürchtete die Kirche, mit den Verbrechen an den Juden in Verbindung gebracht zu werden, wenn sie das Bekennerschreiben ihres Geistlichen aus dem Jahr 1943 ernst genommen hätte. Vielleicht war es aber auch für die kirchliche Führung schlicht unvorstellbar, dass ein Pfarrer an der Ermordung der europäischen Juden teilgenommen hatte.“

Und der Bischof? Als hätte es in jener Zeit keine anderen wichtigen Probleme gegeben, führte Otto Dibelius, wie schon in den Weimarer Jahren, seinen Kampf gegen den Atheismus fort und blieb auf nationalprotestantischem Kurs. Am 16. März 1947 prangerte er in einer Rede Friedrich Nietzsche und Alfred Rosenberg in einem Atemzug an. Seine Conclusio: „Der große Säkularisierungsprozess ist kaum aufzuhalten.“ – Und so war’s dann auch. Aber das ist ein anderes Thema.

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