1961: Nr. 558 in Bautzen II

Zeitgeschichte Der Prozess gegen Heinz Brandt wird vorbereitet, der von West- nach Ostberlin entführt worden ist. Der Angeklagte saß im KZ und gehörte anfangs noch zur DDR-Nomenklatura
Ausgabe 49/2021

Der schlimmste Feind ist immer der Feind in den eigenen Reihen. Ein Satz, der in der DNA der Linken tief eingeschrieben ist. Das war nie anders. Man erinnere sich an Marx’ Auslassungen über den „jüdische(n) Nigger Lassalle“ oder an die Abrechnung Rosa Luxemburgs mit dem Kreis um Karl Kautzky vom marxistischen Zentrum der Sozialdemokratie, den sie als „Sumpf“ schmähte und dabei August Bebel zitierte. In der Weimarer Republik dann geißelte die KPD unter dem Vorsitz Ernst Thälmanns die Sozialdemokratie als „sozialfaschistisch“. Bis zum heutigen Tag kann es sein, dass Kontroversen innerhalb der Linken mit hasserfüllter Inbrunst ausgetragen werden, die für Außenstehende ein Rätsel ist. Die SED machte da keine Ausnahme. Abweichler galten als Abtrünnige – darunter auch jemand wie Heinz Brandt, dessen Bruder bei den Moskauer Schauprozessen Ende der 1930er Jahre zum Tode verurteilt wurde und dessen Eltern in den Gaskammern der Nazis ums Leben kamen. Brandt selbst hatte Auschwitz und Buchenwald überlebt. Über die gegen ihn verhängte Isolationshaft in DDR-Gefängnissen schrieb er in seinen Erinnerungen: „Dieses Mal bin ich nicht der jüdisch-bolschewistische Untermensch, sondern ein Staatsfeind, Agent des Klassenfeindes.“ In der Bautzener Zelle habe er manchmal vom Konzentrationslager geträumt – ein schreckliches Erwachen.

Bis zum Mauerbau im August 1961 habe das MfS, so der Schriftsteller Andreas Baum unlängst im Deutschlandfunk, etwa 400 Menschen aus dem Westen in die DDR entführt. Einer der letzten war der IG-Metaller Heinz Brandt, der in den frühen Jahren des Arbeiter--und-Bauern-Staates zu dessen Nomenklatura gehört hatte. Brandt brachte es bis zum Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, zuständig für Agitation und Schulungen. Den 17. Juni 1953 hatte er als großes Unglück empfunden und war im Sog eines Machtkampfes im Politbüro, bekannt als „Zaisser-Herrnstadt-Affäre“, von seinem Posten entbunden worden. Bald schon erteilte ihm die Partei eine Rüge wegen „unmoralischen Verhaltens“, verbunden mit einem Funktionsverbot. 1958 setzte er sich mit seiner Familie in den Westen ab, auch um einer Verhaftung zu entgehen. Der Staatssicherheitsdienst folgte ihm.

Im Juni 1961, anlässlich einer Gewerkschaftstagung, hielt sich Brandt, nunmehr Redakteur der Gewerkschaftszeitung Metall, in Westberlin auf, wo er plötzlich wie vom Erdboden verschwunden war, ohne Nachricht und Abschied. Tage später berichteten die DDR-Zeitungen, Brandt wäre bei Ausführung eines Spionageauftrages verhaftet worden. Andere Meldungen folgten, etwa dass man ihn schlafend vorgefunden habe in der S-Bahn, die seinerzeit noch die Berliner Sektoren miteinander verband. In seinen Memoiren schildert Heinz Brandt seine Entführung am 16. Juni 1961. Ihm sei eine Falle gestellt worden. Ein anderer Gewerkschafter, mit dem die Familie im selben Haus in Frankfurt am Main wohnte, hatte ihn zuvor mit einer gewissen Eva Walter zusammengebracht, die ihm dann in Westberlin in einer Wohnung unweit des Schlossparktheaters, wie Brand schrieb, „den Whisky mit dem Betäubungsmittel kredenzte“. Weiter heißt es, „wie Eva mich um die Ecke des Hauses dirigierte, den Weg nach Dahlem wies (zu meinen Freunden, der Familie von Professor Flechtheim, bei denen ich übernachten wollte), wie ich unweit dieser Ecke zusammenbrach und eben noch, wie im Nebel, die Gestalten bemerken konnte, die hinter einem Eingang auf mich gelauert und denen sie das Zeichen gegeben hatte“. Noch ehe Brandt das Bewusstsein verlor, habe er die Worte vernommen, mit denen die Männer ihn empfingen: „Wir haben schon auf dich gewartet.“ Taumelnd und benommen sei er in einem Zimmer zu sich gekommen. Brandt erinnerte sich, „wie die Banditen sich als Samariter gaben“, ihm aber brutal ein Handtuch in den Mund pressten und seinen Kiefer verletzten.

Die Männer der Staatssicherheit fuhren ihn im Auto nach Ostberlin. Und erst hier, im Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen, sei er wieder voll zu Bewusstsein gekommen. Die Entführer hätten ihm sogleich ein Angebot gemacht. „Ich würde alsbald frei sein und in Freuden leben können, wenn ich das Vorgefallene (also den Menschenraub) legitimieren und öffentlich erklären würde – reuig und ‚selbstkritisch‘ –, ich sei freiwillig zurückgekehrt, aus eigenen Stücken, enttäuscht vom ‚goldenen revanchistischen Westen‘, und fordere nun auch meine Familie in Frankfurt am Main auf, mir zu folgen, mitzuhelfen beim Aufbau des Sozialismus in der DDR und so wiedergutzumachen, was ich durch meine ‚Republikflucht‘ im September 1958 und meine ‚Hetze gegen die DDR‘ verbrochen hätte.“ Offenbar hatte die Stasi Brandt auch als Kronzeugen im Blick, um die Notwendigkeit des Mauerbaus zwei Monate später zu begründen. Drei Tage Zeit lässt man ihm, aber keine Ruhe. Er wird verhört und ideologisch bearbeitet. Als jedoch alle Versprechungen und Drohungen ihre Wirkung verfehlen, wird ADN angewiesen, die Meldung vom illegalen Grenzübertritt zu verbreiten, einschließlich der Geschichte, er wäre beim „aktiven Spionageeinsatz“ verhaftet worden. Dann, vor nunmehr 60 Jahren, wurde der Prozess gegen Heinz Brandt vorbereitet.

Aus SED-Sicht war der Spionagevorwurf mehr als berechtigt. Nach seinem Sturz in der Partei hatte Brandt Kontakt mit dem Ostbüro der SPD aufgenommen und dort wiederholt von oppositionellen Strömungen in der SED berichtet, wie Andreas Baum sagt, „stets mit dem Ziel, eine Verständigung zu finden“. Denn Heinz Brandt war immer noch überzeugter Kommunist, der an einen dritten, nicht totalitären und demokratischen Weg glaubte. Schon in der KPD der Weimarer Republik galt er als „Versöhnler“, der den Hauptfeind nicht in der Sozialdemokratie sehen wollte. – Von Spionage aber konnte keine Rede sein, da der Viermächte-Status Berlins es der SPD im Ostteil der Stadt ermöglichte, legal Büros zu betreiben, bis zum 13. August 1961. In manchem Stadtbezirk organisierten sich noch ganze SPD-Abteilungen. Wenn sich ein DDR-Bürger im sowjetischen Sektor Berlins mit Sozialdemokraten traf, verstieß er theoretisch gegen kein DDR-Gesetz.

Dennoch wird Heinz Brandt 1962 in einem Geheimprozess zu 13 Jahren Haft verurteilt. Doch selbst das Oberste Gericht der DDR kommt nicht umhin, seine guten Absichten zur Kenntnis zu nehmen. In der Urteilsbegründung heißt es: „Ausgangspunkt des vom Angeklagten begangenen Verbrechens war nicht eine offene Feindschaft gegenüber der Entwicklung im Osten Deutschlands, sondern seine irrige Vorstellung von der Möglichkeit einer Versöhnung der antagonistischen Klassengegensätze, die ihn zu einem Verbrecher werden ließ.“

Als Insasse der Sonderhaftanstalt Bautzen II trägt er fortan keinen Namen mehr, nur noch die Nummer 558. Auch weiß er nicht um die Kampagne für seine Freilassung, getragen u. a. von der IG Metall, linken Sozialdemokraten, Liberalen, Pazifisten und selbstredend der eben erst gegründeten Organisation Amnesty International. Die DDR-Führung, die auf mehr internationale Anerkennung bedacht ist, wird vom Ausmaß der Solidarität mit Heinz Brandt völlig überrascht. Als schließlich Bertrand Russell, Nobelpreisträger für Literatur, 1964 die ihm vom Friedensrat der DDR verliehene Carl-von-Ossietzky-Medaille zurückgibt, aus Protest gegen die Verschleppung und Inhaftierung von Heinz Brandt, wird eingelenkt: Walter Ulbricht begnadigt den Inhaftierten und erlaubt eine Rückkehr in den Westen.

Heinz Brandt, der 1979 Gründungsmitglied der Grünen wird und 1986 in Frankfurt am Main verstirbt, wird zeit seines Lebens ein „Versöhnler“ bleiben, der sich zu keinen antikommunistischen Tiraden hinreißen lässt. In seiner Autobiografie Ein Traum, der nicht entführbar ist schreibt er, dass jede humane Tat wie eine Fackel den schmutzigen Nebel erhellt, über jener Landschaft, „hinter der wir eine menschliche, menschenwürdige Gesellschaft ahnen“.

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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