Der schlimmste Feind ist immer der Feind in den eigenen Reihen. Ein Satz, der in der DNA der Linken tief eingeschrieben ist. Das war nie anders. Man erinnere sich an Marx’ Auslassungen über den „jüdische(n) Nigger Lassalle“ oder an die Abrechnung Rosa Luxemburgs mit dem Kreis um Karl Kautzky vom marxistischen Zentrum der Sozialdemokratie, den sie als „Sumpf“ schmähte und dabei August Bebel zitierte. In der Weimarer Republik dann geißelte die KPD unter dem Vorsitz Ernst Thälmanns die Sozialdemokratie als „sozialfaschistisch“. Bis zum heutigen Tag kann es sein, dass Kontroversen innerhalb der Linken mit hasserfüllter Inbrunst ausgetragen werden, die für Außenstehende ein Rätsel ist. Die SED machte da keine Ausnahme. Abweichler galten als Abtrünnige – darunter auch jemand wie Heinz Brandt, dessen Bruder bei den Moskauer Schauprozessen Ende der 1930er Jahre zum Tode verurteilt wurde und dessen Eltern in den Gaskammern der Nazis ums Leben kamen. Brandt selbst hatte Auschwitz und Buchenwald überlebt. Über die gegen ihn verhängte Isolationshaft in DDR-Gefängnissen schrieb er in seinen Erinnerungen: „Dieses Mal bin ich nicht der jüdisch-bolschewistische Untermensch, sondern ein Staatsfeind, Agent des Klassenfeindes.“ In der Bautzener Zelle habe er manchmal vom Konzentrationslager geträumt – ein schreckliches Erwachen.
Bis zum Mauerbau im August 1961 habe das MfS, so der Schriftsteller Andreas Baum unlängst im Deutschlandfunk, etwa 400 Menschen aus dem Westen in die DDR entführt. Einer der letzten war der IG-Metaller Heinz Brandt, der in den frühen Jahren des Arbeiter--und-Bauern-Staates zu dessen Nomenklatura gehört hatte. Brandt brachte es bis zum Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, zuständig für Agitation und Schulungen. Den 17. Juni 1953 hatte er als großes Unglück empfunden und war im Sog eines Machtkampfes im Politbüro, bekannt als „Zaisser-Herrnstadt-Affäre“, von seinem Posten entbunden worden. Bald schon erteilte ihm die Partei eine Rüge wegen „unmoralischen Verhaltens“, verbunden mit einem Funktionsverbot. 1958 setzte er sich mit seiner Familie in den Westen ab, auch um einer Verhaftung zu entgehen. Der Staatssicherheitsdienst folgte ihm.
Im Juni 1961, anlässlich einer Gewerkschaftstagung, hielt sich Brandt, nunmehr Redakteur der Gewerkschaftszeitung Metall, in Westberlin auf, wo er plötzlich wie vom Erdboden verschwunden war, ohne Nachricht und Abschied. Tage später berichteten die DDR-Zeitungen, Brandt wäre bei Ausführung eines Spionageauftrages verhaftet worden. Andere Meldungen folgten, etwa dass man ihn schlafend vorgefunden habe in der S-Bahn, die seinerzeit noch die Berliner Sektoren miteinander verband. In seinen Memoiren schildert Heinz Brandt seine Entführung am 16. Juni 1961. Ihm sei eine Falle gestellt worden. Ein anderer Gewerkschafter, mit dem die Familie im selben Haus in Frankfurt am Main wohnte, hatte ihn zuvor mit einer gewissen Eva Walter zusammengebracht, die ihm dann in Westberlin in einer Wohnung unweit des Schlossparktheaters, wie Brand schrieb, „den Whisky mit dem Betäubungsmittel kredenzte“. Weiter heißt es, „wie Eva mich um die Ecke des Hauses dirigierte, den Weg nach Dahlem wies (zu meinen Freunden, der Familie von Professor Flechtheim, bei denen ich übernachten wollte), wie ich unweit dieser Ecke zusammenbrach und eben noch, wie im Nebel, die Gestalten bemerken konnte, die hinter einem Eingang auf mich gelauert und denen sie das Zeichen gegeben hatte“. Noch ehe Brandt das Bewusstsein verlor, habe er die Worte vernommen, mit denen die Männer ihn empfingen: „Wir haben schon auf dich gewartet.“ Taumelnd und benommen sei er in einem Zimmer zu sich gekommen. Brandt erinnerte sich, „wie die Banditen sich als Samariter gaben“, ihm aber brutal ein Handtuch in den Mund pressten und seinen Kiefer verletzten.
Die Männer der Staatssicherheit fuhren ihn im Auto nach Ostberlin. Und erst hier, im Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen, sei er wieder voll zu Bewusstsein gekommen. Die Entführer hätten ihm sogleich ein Angebot gemacht. „Ich würde alsbald frei sein und in Freuden leben können, wenn ich das Vorgefallene (also den Menschenraub) legitimieren und öffentlich erklären würde – reuig und ‚selbstkritisch‘ –, ich sei freiwillig zurückgekehrt, aus eigenen Stücken, enttäuscht vom ‚goldenen revanchistischen Westen‘, und fordere nun auch meine Familie in Frankfurt am Main auf, mir zu folgen, mitzuhelfen beim Aufbau des Sozialismus in der DDR und so wiedergutzumachen, was ich durch meine ‚Republikflucht‘ im September 1958 und meine ‚Hetze gegen die DDR‘ verbrochen hätte.“ Offenbar hatte die Stasi Brandt auch als Kronzeugen im Blick, um die Notwendigkeit des Mauerbaus zwei Monate später zu begründen. Drei Tage Zeit lässt man ihm, aber keine Ruhe. Er wird verhört und ideologisch bearbeitet. Als jedoch alle Versprechungen und Drohungen ihre Wirkung verfehlen, wird ADN angewiesen, die Meldung vom illegalen Grenzübertritt zu verbreiten, einschließlich der Geschichte, er wäre beim „aktiven Spionageeinsatz“ verhaftet worden. Dann, vor nunmehr 60 Jahren, wurde der Prozess gegen Heinz Brandt vorbereitet.
Aus SED-Sicht war der Spionagevorwurf mehr als berechtigt. Nach seinem Sturz in der Partei hatte Brandt Kontakt mit dem Ostbüro der SPD aufgenommen und dort wiederholt von oppositionellen Strömungen in der SED berichtet, wie Andreas Baum sagt, „stets mit dem Ziel, eine Verständigung zu finden“. Denn Heinz Brandt war immer noch überzeugter Kommunist, der an einen dritten, nicht totalitären und demokratischen Weg glaubte. Schon in der KPD der Weimarer Republik galt er als „Versöhnler“, der den Hauptfeind nicht in der Sozialdemokratie sehen wollte. – Von Spionage aber konnte keine Rede sein, da der Viermächte-Status Berlins es der SPD im Ostteil der Stadt ermöglichte, legal Büros zu betreiben, bis zum 13. August 1961. In manchem Stadtbezirk organisierten sich noch ganze SPD-Abteilungen. Wenn sich ein DDR-Bürger im sowjetischen Sektor Berlins mit Sozialdemokraten traf, verstieß er theoretisch gegen kein DDR-Gesetz.
Dennoch wird Heinz Brandt 1962 in einem Geheimprozess zu 13 Jahren Haft verurteilt. Doch selbst das Oberste Gericht der DDR kommt nicht umhin, seine guten Absichten zur Kenntnis zu nehmen. In der Urteilsbegründung heißt es: „Ausgangspunkt des vom Angeklagten begangenen Verbrechens war nicht eine offene Feindschaft gegenüber der Entwicklung im Osten Deutschlands, sondern seine irrige Vorstellung von der Möglichkeit einer Versöhnung der antagonistischen Klassengegensätze, die ihn zu einem Verbrecher werden ließ.“
Als Insasse der Sonderhaftanstalt Bautzen II trägt er fortan keinen Namen mehr, nur noch die Nummer 558. Auch weiß er nicht um die Kampagne für seine Freilassung, getragen u. a. von der IG Metall, linken Sozialdemokraten, Liberalen, Pazifisten und selbstredend der eben erst gegründeten Organisation Amnesty International. Die DDR-Führung, die auf mehr internationale Anerkennung bedacht ist, wird vom Ausmaß der Solidarität mit Heinz Brandt völlig überrascht. Als schließlich Bertrand Russell, Nobelpreisträger für Literatur, 1964 die ihm vom Friedensrat der DDR verliehene Carl-von-Ossietzky-Medaille zurückgibt, aus Protest gegen die Verschleppung und Inhaftierung von Heinz Brandt, wird eingelenkt: Walter Ulbricht begnadigt den Inhaftierten und erlaubt eine Rückkehr in den Westen.
Heinz Brandt, der 1979 Gründungsmitglied der Grünen wird und 1986 in Frankfurt am Main verstirbt, wird zeit seines Lebens ein „Versöhnler“ bleiben, der sich zu keinen antikommunistischen Tiraden hinreißen lässt. In seiner Autobiografie Ein Traum, der nicht entführbar ist schreibt er, dass jede humane Tat wie eine Fackel den schmutzigen Nebel erhellt, über jener Landschaft, „hinter der wir eine menschliche, menschenwürdige Gesellschaft ahnen“.
Kommentare 23
eine wichtige erinnerung !
auch eine korrektur:
die "mauer" sollte statt "antifaschistischer schutzwall" korrekt als
"schutzwall des stalinismus" genannt werden.
kein endpunkt des stalinismus, aber ein barbarischer höhepunkt,
der ihn deutlich abgrenzte gegen die bürgerrechts-bewegung,
die damals fahrt aufnahm.
und als anachronismus jeden rest von legitimität verlor.
außer bei denen, die sich einen traum vom kommunismus erhalten wollten.
kontra-faktisch.
"...außer bei denen, die sich einen traum vom kommunismus erhalten wollten" - Z.B. Heinz Brand.
Heinz BrandT.
ja, erstaunlich. aber akzeptabel, wenn darüber nichts beschwiegen wird.
oda?
ich halte es auch so, wenn ich mich zu meiner bürgerlichkeit bekenne...
http://unaufhoerlicher-anfang.de/unaufhoerlicher-anfang-2/vorwort/
Es gab viele Schicksale dieser Art. Eines hat mich immer besonders bewegt, weil ich den Betroffenen kannte. Ralf Schröder , Slawist und Lektor beim Berliner Aufbauverlag. Er war ein tiefer Kenner der russischen und sowjetischen Literatur, hat deren Reichtum erschlossen.
Wir begegneten uns im Berliner Presseclub. "Ich darf jetzt alles sagen, ich habe schon gesessen", sagte er damals halb ironisch halb bitter.
Ralf Schröder hat sieben Jahre im Zuchthaus Bautzen II zugebracht - verurteilt war er zu zehn Jahren. Dieses Erlebnis hat auch ihn in seiner Überzeugung nicht verändert. Er blieb Marxist, er nannte die Perestroika später "Katastroika".
Für mich ist das ein Drama, das über sein Schicksal hinausweist: Die maxistische Analyse der Welt ist meist ganz zutreffend, aber die Praxis ist jedes Mal ein Desaster.
So ist es auch in der Gegenwart. Triumphal vorgetragene Analysen und Thesen - praktisch aber Streit, Zerwürfnis ,Sektiererei. An der Basis aber reiben sich Genossen auf.
Es gibt auch im Freitag zwei ganz gute Beiträge dazu:
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-schock-von-damals
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/etwas-geht-zu-ende
Wie schön, dass der Freitag solche Persönlichkeiten wie Heinz Brandt noch auf dem Schirm hat. Im Rückblick fragt man sich, von welcher Hysterie die Mielke-Truppe eigentlich getrieben war, jemanden wie Heinz Brandt mit derart kriminellen Methoden zu verfolgen?
Gute Frage. Man brauchte nur mal und sicher öfter auch zu noch anderen Themen endlich mal die Mielke-Leute befragen. Warum wird das so selten gemacht?, wäre auch eine interessante Frage. Oder?
zwo beiträge. hm.
also war auch vor meiner zeit hier: der FREITAG kein organ der dissidenten,
auch nicht der aufarbeitung der katastrophe vor der katastrophe,
sondern eher der (n)ostalgie...
ja, so würden Sie das machen. Vielleicht wäre das auch interessant. Aber das würde meine Frage nicht beantworten.
Eine vollständige Antwort habe ich natürlich auch nicht, aber ein Blick in die Geschichte hilft m.E. schon etwas weiter.
Die deutschen Kommunisten und nach 45 dann auch nicht nur die DDR-Regierung hatten wieviele Jahrzehnte Gefängnis, KZ und Emigration vorzuweisen? Folter, Hunger, Todesdrohungen? Von völlig zerstörten beruflichen Ambitionen nicht erst zu reden. Und das galt ja nicht nur für die Nazizeit, deren Eliten, wie man wissen kann, zu einem sehr erheblichen Teil geradewegs in der BRD Karriere gemacht haben. Das galt, und das war an Irrsinn eben nicht mehr zu toppen, auch für viele deutsche Kommunisten, die sich in die SU geflüchtet hatten und auch dort, wenn überhaupt nur mit größter Mühe Gulag, Lubjanka oder Hotel Lux überleben mussten.
Die Traumata, die da entstanden sind, trugen natürlich alle in sich. Von Behandlung oder gar Heilung war nie die Rede. Auch in der SU/RU ist davon bis heute nicht die Rede. Die deutschen Kommunisten hatten dank der Roten Armee also der Sowjetunion endlich "ihr" Land bekommen. M.E. könnte man da durchaus auf gewisse Weise Parallelen mit Israel sehen. Dass die nie, nie, nie wieder Derartiges erleben wollten und also unvermeidlich im Denken der Zeit und nicht zu vergessen in dem von den USA ausgerufenem Kalten Krieg als Erstes an Waffen und ein dazugehöriges straffes Regime dachten, ist mir sehr verständlich.
Heiner Müller:Die DDR hatte eine kommunistische Regierung mit einer postfaschistischen Bevölkerung. Also irgendwie den Feind, der nun das Land mit aufbauen sollte, im eigenen Land.
Diese auch mittelfristig nicht veränderbare Situation trug gewiss nicht zur Beruhigung der Lage bei. Und das der Klassenfeind im Westen stand, war ja nun völlig klar. 1989 war denen und noch so manch anderen ja schlichtweg die Bestätigung dafür.
In Israel war endlich das gelobte und akzeptierte Land erreicht. Aber die Ängste sind auch dort bis heute da. Und mit Recht, wie wir alle wissen:
https://www.handelsblatt.com/politik/international/israelischer-geheimdienst-mossad-liess-offenbar-rund-3000-menschen-toeten/20869034.html?ticket=ST-1197509-iNGZD4EpXV1vtuY3FUZ5-cas01.example.org
Sicherlich ist das nicht die ganze Antwort, aber ein Anfang ist es allemal.
die ersten DDR-funktionäre waren vom stalin-terror deformierte "moskauer".
https://www.tagesspiegel.de/politik/traumatisierte-ddr-gruender-niemals-einen-fehler-machen/24182198.html
wie "vergessens-politik" und opfer-mythos die aufarbeitung in der DDR hemmt:
https://www.miersch.media/die-geschichte-raucht-noch/
ein traumata-aufdeckendes interview mit ines geipel !
https://www.freitag.de/autoren/magda/blick-aus-der-zukunft-auf-vergangene-hoffnung
Dieser Film war sehr eindrücklich.
Also bei Ines Geipel zucke ich immer zusammen. Die ist gewissermaßen fundamentalische "Aufklärerin", hat aber auch ihre blinden Flecken, die ihr die Ankunft im gemeinsamen Deutschland erleichtern und prima in die jetzt herrschenden Narrative "einhaken".
Und manches ihrer Erzählungen ziehe ich auch in Zweifel.
"wie "vergessens-politik" und opfer-mythos die aufarbeitung in der DDR hemmt"
Da hab en Sie allermindestens drei Buchstaben vergessen. Vielleicht doch nicht ohne Absicht, vermute ich mal.
Und Ines Geipel? Je nun, da höre ich auch sehr Widersprüchliches. Die würde ich nun nicht als Referenz heranziehen.
s.o.
ich erweise keine referenz, ich verweise auf gedanken, die einsichten vermitteln.
können.
und: die "strategische ignoranz", die in der abgeteilten BRD vorherrschend war,
hat andere formen, andere wirkungen,
und ist relativ früh zum öffentlichen problem geworden.
wer bei widersprüchlichem abschaltet, statt dem nachzugehen:
bleibt blöd.
Wenn einer beleidigend werden muss.... Viel Spaß noch.
Ihr hinweis auf nervöse zuckungen und der wiki-artikel machen mich gerade
scharf: die texte der autorin will ich kennenlernen...
die "beleidigte leberwurst" geben doch Sie !
ohne not !
und die sentenz von heiner müller benötigt auch mehr widerspruch.
ohne daß ich zucke, seine aufklärungen
bedenkens-schwanger in anführungs-zeichen setze
und ihn auf die erweiterte liste der "widersprüchlichen"/zu
meidenden/"auszusondernden literatur"
setze..
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_auszusondernden_Literatur