1961: One-Way-Ticket

Zeitgeschichte Der EKD-Ratsvorsitzende Kurt Scharf steht ohne Staat und Geld am Lehrter Bahnhof in Westberlin. Die DDR hat eine Dienstreise genutzt, um ihn auszubürgern
Ausgabe 36/2021

Im Spätsommer 1961 galt Kurt Scharf, der Propst von Brandenburg, vielen Menschen als ranghöchster Protestant in beiden deutschen Staaten. Im Februar desselben Jahres hatte ihn die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in das Amt des Ratsvorsitzenden gewählt. Seinerzeit arbeitete die EKD noch als gesamtdeutsches Gremium. Die DDR-Gliedkirchen waren fest eingebunden und erhielten umfangreiche Finanztransfers der westdeutschen Landeskirchen. Demzufolge war die Synode der EKD die einzige parlamentarische Körperschaft Deutschlands, deren Mitglieder aus beiden deutschen Staaten entsandt wurden. Dass sich die Synodalen für jemanden entschieden hatten, der kein amtierender Bischof war und noch dazu seinen Wohn- wie Arbeitssitz in Ostberlin hatte, war im Westen eine Überraschung und für die DDR kein Grund zur Freude. In einer Einschätzung der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED hieß es über Präses Scharf (dessen Titel noch aus der Brandenburger Bekenntnissynode herrührte), er sei ein „prononcierter Verfechter der großkapitalistischen Ordnung“ und schüre stets „in geschickter und raffinierter Weise die Politik des Kalten Krieges“.

Wer aber genau hinsah, dem fiel schon damals auf, dass dieser Theologe geradezu der Gegenentwurf zu Vorgänger Otto Dibelius war. Das galt besonders für den Militärseelsorgevertrag, gegen den Scharf – wenn auch erfolglos – in der EKD-Kirchenkonferenz votiert hatte. Auch war er nie Antisemit und hatte 1933 die Machtergreifung des NS-Regimes ausdrücklich nicht begrüßt. Während der Hitler-Jahre musste er siebenmal in „Schutzhaft“ und hatte diverse Straf- und Disziplinarverfahren zu erdulden. 1940 bestrafte ihn die Kirche mit der Entfernung aus dem Pfarramt. In der Begründung, nachzulesen im Evangelischen Zentralarchiv Berlin-Kreuzberg, wird ein Gottesdienst angeführt: „Vor Beginn des eigentlichen Gottesdienstes trat er vor die Gemeinde und löschte als Zeichen des Gedenkens an die gefangenen Brüder die Altarkerzen. Zum Schluss des Gottesdienstes wurden die Zahlen der in den Konzentrationslagern und Gefängnissen befindlichen Geistlichen bekannt gegeben und ihrer fürbittend gedacht. Eingeschlossen wurde auch eine besondere Fürbitte ‚für die verfolgten Brüder und Schwestern Israels‘ …“

Während Bischof Dibelius in seinem Westberliner Amtssitz meinte, die Kirche theologisch an die politische Ordnung in Westdeutschland binden zu müssen, in seinen Publikationen gar von „Frauenbataillonen“ in der Ostzone fabulierte, „die für die Besetzung Westberlins im Straßenkampf geschult werden“, trat der Propst von Brandenburg nie mit solchen Stellungnahmen hervor. Die SED-Alleinherrschaft lehnte Scharf ab, war jedoch zugleich ein bedächtiger, auf Ausgleich und Versöhnung bedachter Seelsorger, der nach Wegen suchte, kirchliches Leben in der DDR langfristig zu ermöglichen. Der Mauerbau dürfte ihn als DDR-Bürger nicht überrascht haben. Auf sein Betreiben hin hatte die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg zwei Jahre zuvor eine Notverordnung erlassen, die für den Fall einer Teilung vorsah, dass beide Kirchenregionen selbstständig weiter agierten und eigene Organe bildeten. Allerdings sollten sie ihr Handeln mit der Kirche auf der anderen Seite abstimmen. Als diese Notverordnung am 13. August 1961 in Kraft trat, fiel Kurt Scharf das Amt des „Bischofsverwesers“ zu, das er aber nur achtzehn Tage – bis zu seiner Ausbürgerung – innehaben sollte (zu seinen Nachfolgern in diesem Amt gehörte dann Albrecht Schönherr, später einer der Vorsitzenden des 1968 gegründeten DDR-Kirchenbundes).

Im Sommer 1961 hatte die DDR die EKD-Organe auf ihrem Territorium zwar nicht verboten, deren Arbeit aber mit Ein- und Ausreisesperren weitgehend lahmgelegt. Wie schwach die Kirchen schon damals waren, wird daran deutlich, dass ihre Repräsentanten die DDR-Regierung zur Großzügigkeit bei den Passierscheinen aufforderten, größerer Protest aber ausblieb. Es reichte schon vorsichtige Auflehnung – etwa ein Telegramm an Walter Ulbricht, das Präses Scharf wegen der geschlossenen Grenze mit anderen DDR-Geistlichen verfasst hatte –, um auf Regierungsseite heftige Reaktionen auszulösen. In seinen Memoiren erinnerte sich Scharf an ein Gespräch mit Fritz Ebert am 18. August 1961 im Roten Rathaus: „Der Oberbürgermeister von Ost-Berlin empfing mich nicht allein, sondern in Gegenwart seines Stellvertreters und des Berliner Polizeipräsidenten; dieser war in ‚großer Uniform‘. Ebert machte mir heftige Vorwürfe wegen unseres Telegramms, das in dieser hochgespannten Situation eine Gefährdung des Staates bedeute, und bot mir an, ich könne, da mir die Maßnahme der DDR nicht gefalle, ab sofort zu meiner Familie nach Westberlin übersiedeln. Ich lehnte dies entschieden ab. Das Gespräch endete mit einer schroffen Verwarnung.“

Seine Tage als DDR-Bürger waren gezählt. Im Protokoll der SED-Politbüros vom 29. August 1961 findet sich der Beschluss: „Die für den 31.8.1961 im demokratischen Berlin geplante Tagung des Rates der EKD wird untersagt. Der Präsident der Volkspolizei Berlin, Gen. Eikemeier, wird beauftragt, Präses Scharf zu sich zu bestellen und ihm diese Anordnung mit einer entsprechenden politischen Begründung mitzuteilen. Die Sicherheitsorgane werden an den Grenzübergangsstellen die acht westdeutschen Mitglieder des Rates der EKD zurückweisen.“ Das Politbüro beschloss weiterhin: „Falls Scharf einen Antrag für die Fahrt nach Westberlin stellt, wird dem entsprochen. Er kann dann nach dem Demokratischen Berlin nicht mehr zurück.“ Und so geschah es.

Am letzten Tag im August fuhr Kurt Scharf zur Sitzung des EKD-Rates nach Westberlin, wohin Bischof Lilje als sein Stellvertreter eingeladen hatte. In einer EKD-Erklärung am Tag darauf sind die Geschehnisse dokumentiert: „Am 31. August um 9.30 Uhr erteilte das Präsidium der Volkspolizei die beantragte Durchfahrterlaubnis für Präses Scharf für die Dauer von drei Monaten mit dem Bemerken, dass über die Verlängerung der Erlaubnis Ende November neu zu verhandeln sei. Präses Scharf begab sich um 12.30 Uhr ohne Behinderung über den vorgeschriebenen Kontrollpunkt nach Westberlin. Als er nach Erledigung seiner Dienstgeschäfte sich um 20 Uhr wieder am gleichen Kontrollpunkt einfand, wurden ihm und seinem Kraftfahrer die Personalausweise und der Durchfahrtberechtigungsschein ‚zur Prüfung‘ abgenommen. Nach etwa 30 Minuten wurde Präses Scharf durch zwei Beauftragte in Zivil eröffnet, sein Berechtigungsschein und Personalausweis würden einbehalten. Das Wiederbetreten des ‚Demokratischen Berlin‘ sei ihm untersagt. Präses Scharf wurde von Fahrer und Wagen getrennt und genötigt, zu Fuß nach Westberlin zurückzukehren …“ Wolf-Dieter Zimmermann schreibt in seiner Kurt-Scharf-Biografie: „Nun stand er am Grenzübergang Invalidenstraße ohne Auto, ohne Westgeld. Von einem Passanten am Lehrter Bahnhof borgte er sich zwanzig Pfennig …“

Im Jahr 1966 wurde Kurt Scharf von der Ost- und der Westsynode seiner Landeskirche zum Bischof von Berlin-Brandenburg gewählt. Bei den protestierenden Studenten genoss er hohes Ansehen; als Bischof hielt er eine Rede auf der Trauerfeier für den erschossenen Benno Ohnesorg. Scharf engagierte sich für die Freilassung Fritz Teufels und ging später sogar Ulrike Meinhof im Gefängnis besuchen, was ihm die Springer-Presse übelnahm. Mit der Ostdenkschrift, die 1965 unter seiner Ägide als EKD-Ratsvorsitzender erschien, gilt Kurt Scharf heute als einer der Wegbereiter der neuen Ostpolitik Willy Brandts.

Den Fall der Mauer hat der Altbischof noch erlebt. Am 28. März 1990 wollte Kurt Scharf seiner früheren Büroleiterin einen Krankenbesuch abstatten. Der 87-Jährige bestieg den Linienbus Nummer zehn, setzte sich auf die Bank ans Fenster und saß dort so lange, bis den anderen Fahrgästen auffiel, dass er sich nicht mehr rührte. Sein Kopf lehnte an der Scheibe.

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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