1971: Ein Haus am See

Zeitgeschichte In der DDR besiegelt der VIII. Parteitag der SED den Sturz Walter Ulbrichts. Unter Erich Honecker soll der Konsum ergiebiger und so der Sozialismus attraktiver werden
Ausgabe 23/2021

Nachdem sich seine einst engsten Genossen in Moskau die Erlaubnis zum Sturz eingeholt haben, ist es an Walter Ulbricht, am 3. Mai 1971 vor dem SED-Zentralkomitee zu erklären: Er habe sich nach „reiflicher Überlegung“ entschlossen, zurückzutreten. „Die Jahre fordern ihr Recht und gestatten es mir nicht länger, eine solche anstrengende Tätigkeit wie die des Ersten Sekretärs auszuüben. Ich erachte daher die Zeit für gekommen, diese Funktion in jüngere Hände zu geben.“ Im Gegenzug und in „Ehrung seiner Verdienste“ überträgt ihm das Zentralkomitee das im Statut gar nicht vorgesehene Amt eines „Vorsitzenden der SED“ (eine Funktion, die es nach Ulbrichts Tod am 1. August 1973 prompt nicht mehr gibt).

Es beginnt die Ära Honecker. Der neue Parteichef saß während der NS-Zeit als politischer Gefangener zehn Jahre im Zuchthaus, hat sich in den frühen 1950er-Jahren als FDJ-Vorsitzender um den Aufbau eines SED-nahen Jugendverbandes bemüht und ist beim Kahlschlag-Plenum Ende 1965 als Einpeitscher aufgetreten, als fast eine ganze Jahresproduktion der DEFA auf den Index gerät. Nun aber setzt der neue erste Mann tatsächlich reformerische Akzente! So sorgt er für die Abschaffung des Paragrafen 218 und liberalisiert gegen CDU-Stimmen in der Volkskammer das Abtreibungsrecht. Gleichzeitig soll die DDR dank sozialer Maßnahmen ein geburtenfreudiges Land bleiben. Die Freigabe der Pille bringt, so der Historiker Jörn Schüttrumpf, „die sexuell entspannteste Jugend in der deutschen Geschichte“ hervor, bis Ende der 1980er-Jahre auch in der DDR das HI-Virus beunruhigt.

Der Machtwechsel zu Honecker beschert dem „Land der kleinen Leute“ (Günter Gaus) einen bis dato so nicht gekannten Gewinn an Lebensstandard. Zwischen 1970 und 1975 steigt der Anteil der Haushalte mit PKW von 15,6 auf 26,2 Prozent, mit Kühlschränken von 65,4 auf 84,7 und mit TV-Geräten von 69,1 auf 81,6. Wie der Soziologe Detlef Pollack resümiert, habe sich der Sozialismus „veralltäglicht“. Immer mehr Menschen hätten ihn weder als Provisorium noch Errungenschaft erlebt, sondern als eine Selbstverständlichkeit. „Die SED ließ sogar einen größeren Freiraum für Privatheit und Individualität zu. Dass man zu Hause das Westfernsehen einschaltete, wurde ebenso stillschweigend geduldet wie die Orientierung besonders der jungen Generation an westlicher Mode, westlicher Rockmusik und westlichem Lebensstil. Öffentliche politische Bekenntnisse waren nicht mehr verlangt. Sofern man nicht gesellschaftliche Führungspositionen anstrebte, reichte es aus, wenn man seinem Beruf nachging, die politischen Pflichtübungen (Maidemonstrationen, Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Organisationen, Wahlbeteiligung) absolvierte und sich ansonsten mit politischen Äußerungen zurückhielt.“

Selbst in der Kulturpolitik überrascht Honecker mit dem Willen zum Wandel: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils – kurz gesagt: die Fragen dessen, was man die künstlerische Meisterschaft nennt.“ Dieses auslegungsfähige Zitat genießt in der DDR für einige Zeit normativen Charakter, ohne dass die Partei jedoch ihr Meinungsmonopol und den Wahrheitsanspruch ihrer Ideologie zur Disposition stellt. Mit den Weltfestspielen im Sommer 1973 weht Welt ins Land. Im selben Jahr ist es Honecker persönlich, der nach langem Ringen im ZK den Spielfilm Die Legende von Paul und Paula (Regie Heiner Carow) freigibt, den späteren DEFA-Kultstreifen, für den Ulrich Plenzdorf das Drehbuch schrieb. Ein Hauch freier Liebe und freier Gedanken ist im Kino zu spüren, über zwei Millionen Zuschauer fühlen sich angezogen.

In seinem Buch Von der Schwierigkeit, Westler zu werden erzählt der Autor Klaus Schlesinger, er habe in den frühen 1970ern das Gefühl gehabt, an keinem anderen Ort der Welt so frei zu sein wie in der DDR – so man Freiheit nicht mit Freizügigkeit verwechselte, „und natürlich aus der Perspektive eines Schriftstellers gesehen, dessen größte Freiheit gegenüber seinen Stoffen, seinen Figuren besteht“. Diese Freiheit freilich währt nicht lange. Nach der Biermann-Ausbürgerung im November 1976 verlassen etliche Künstler die DDR, auch Schlesinger.

Offiziell und unwiderruflich wird der Abschied von der Ära Ulbricht mit dem VIII. SED-Parteitag besiegelt, der vom 15. bis 19. Juni 1971 in der Ostberliner Werner-Seelenbinder-Halle tagt. Fortan gilt eine neue Agenda, definiert als „Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“, dem nächsten Entwicklungsschritt. Über 2.000 Delegierte beschließen ihn im Namen von 1,9 Millionen Mitgliedern und Kandidaten der Partei. Einer fehlt: Walter Ulbricht, immerhin SED-Vorsitzender, dessen Eröffnungsrede von Politbüromitglied Axen verlesen wird.

Wie der Historiker Gerd Dietrich in der Kulturgeschichte der DDR schreibt, heißt der zentrale Satz in Honeckers Bericht an den Kongress: „Die Hauptaufgabe besteht in der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität.“ Eben diese „Politik der Hauptaufgabe“ beendet die von Ulbricht eingeleiteten Wirtschaftsreformen, die den Betrieben mehr Eigenverantwortung gaben, um einer sozialistischen Marktwirtschaft näherzukommen. Es sollte mit einer Fortschritts- und Technologieoffensive die Überlegenheit des Sozialismus bewiesen werden, Stichwort: „Überholen, ohne einzuholen“. Honecker hingegen vertraut nunmehr ganz auf das Primat der Politik. Der Historiker Dietrich Staritz schreibt dazu: „Die Politik der 60er Jahre wurde mit dem Etikett des Subjektivismus und Voluntarismus abgetan. Der ‚homo politicus‘ begann wieder den ‚homo oeconomicus‘ abzulösen. Oder, noch genauer gesagt: Es handelte sich um den ‚homo hierarchicus‘.“ Die Verdrängung von Fachleuten aus dem oberen Parteiapparat sollte sich bitter rächen.

„Honeckers Amtsantritt war langfristig gesehen ein Rückschritt“, meint Gerd Dietrich. Die DDR habe mit den ökonomischen Reformkonzepten in den 1960er-Jahren die Chance gehabt, sich zu einer modernen Gesellschaft zu entwickeln, in der die wirtschaftlichen Freiheiten womöglich eines Tages in individuelle Freiheiten umgeschlagen wären. Der VIII. Parteitag markiert einen Paradigmenwechsel hin zum Konsumsozialismus, einer garantierten Rundumversorgung aller DDR-Bürger, allerdings auf eher mäßigem, nicht allzeit gesichertem Niveau. Einige Historiker sprechen heute von einer „Fürsorgediktatur“. Ausdruck dieser Fürsorge war auch der exorbitante Ausbau der Staatssicherheit, von 45.000 hauptamtlichen Mitarbeitern 1971 auf 81.500 gut zehn Jahre später.

Was die „Politik der Hauptaufgabe“ betraf, so wurde daraus in der SED-Semantik schon bald die Formel von der „Einheit aus Wirtschafts- und Sozialpolitik“, die es so nie gegeben hat. Stattdessen wurden bei den Menschen Erwartungen geweckt, die nie wirklich erfüllt werden konnten. Nicht einmal der kleine Luxus, die hin und wieder mit Westwaren gefüllten Regale in den Läden, war erwirtschaftet, sondern auf Pump finanziert. Dabei konnte von einer Überflussgesellschaft keine Rede sein. Die Republik litt, wie es Günter Gaus seinerzeit treffend formulierte, finanziell an einem Überhangproblem: „Die meisten Leute haben für das, was ihnen der Staat für die Mark der DDR anbieten kann, zu viel auf der hohen Kante. Die Reichen müssen vor allem Beziehungsreiche sein, damit sie ihr Wochenendhaus an der richtigen Stelle im Wald und am Ufer haben können, damit die Installationen in der Wohnung, die Reparaturen am Auto prompt und in einiger Qualität gemacht werden.“ Und überhaupt, im Land der kleinen Leute lebten keine wirklich Reichen.

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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