Wolfgang Hilbig, der in diesem Monat 80 Jahre alt geworden wäre, war womöglich der wortmächtigste Literat, den die DDR hervorgebracht hat. In den aktuellen Würdigungen des 2007 verstorbenen Büchner-Preisträgers fällt jedoch auf, dass sein einziger Bestseller, »Ich«, kaum oder gar nicht erwähnt wird. Warum eigentlich nicht?
In der Ausgabe des Literarischen Quartetts vom 21. Oktober 1993 (siehe youtube.com) zeigte sich ein Hellmuth Karasek hellauf begeistert. Dieser Roman zeige, wie ein Autor erst in einer Provinzstadt, dann in der Hauptstadt Berlin vom Staatssicherheitsdienst zum Schreiben, zum Denunzieren und zum Leben gebracht werde. „Es ist das erste umfassende Porträt, das die DDR in ihrer ganzen Abscheulichkeit, Tristesse, Nischenseligkeit, Versoffenheit und so weiter, äh, Verzweiflung zeigt.“
Sigrid Löffler ging noch weiter. Nach der Lektüre von »Ich« sei der DDR-Staat eine „einzige möglicherweise schlechte Fiktion“. Und das Staatsvolk, was für ein genialer Gedanke, sei am Ende identisch mit den Spitzeln. Ruth Klüger, die eingeladene Gastkritikerin, ergänzte: In dieser Geschichte werde die Sozialisierung des Menschen nachhaltig gestört. Der Mensch finde nicht zu sich, weil anonyme Mächte es ihm unmöglich machten.
Allein Marcel Reich-Ranicki meldet Widerspruch an, spricht von einem „muffigen Roman“, der völlig ohne Ironie und ohne Distanz geschrieben sei.
Das hat er gut beobachtet. Etwa bei der Beschreibung des Offiziers des Ministeriums für Staatssicherheit, der seinem Opfer die Wumme in den Anus rammt. Hat es solcherart Folter bei der Stasi jemals gegeben? Ist das irgendwo dokumentiert? Überhaupt: Seit wann durften Stasispitzel ihre Führungsoffiziere im Büro aufsuchen und sogar Einblick in Aktenvorgänge nehmen? Ganz Ostberlin war untertunnelt und wurde aus dem Untergrund überwacht? In diesem Roman reicht das Katakomben-System bis zum Ministerium in der Normannenstraße – was für eine unglaubliche Räuberpistole, die Wolfgang Hilbig da zu Papier gebracht hat.
Nun lebt Literatur nicht allein von der Erinnerung des Schriftstellers. Erinnern müssen sich die Leserinnen und Leser, auch wenn sie das Erzählte selbst nie erfahren, nie erlebt haben. Und vielleicht liegt hierin das Geniale: In dem Roman »Ich« hat Wolfgang Hilbig den Zeitgeist von 1993 eingefangen. Dem westdeutschen Feuilleton erzählte er die DDR so, wie man sich den Arbeiter- und Bauernstaat dort schon immer vorgestellt hatte. Was nun heute interessiert: Inwieweit hat sich das DDR-Bild in westdeutschen Redaktionen seither eigentlich verändert?
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