Andere Wende

Essay Die DDR-Geschichte wird noch immer so erzählt, dass sich neun von zehn Menschen nicht darin wiederfinden. Wie lebten sie? Eine Erinnerung
Ausgabe 34/2017

Wenn ich meine Mutter besuche, auf dem Friedhof in einem Berliner Vorort, bringe ich nie Blumen. Es macht keinen Sinn. Ihr Urnengrab ist ständig zugestellt: Rosen, Tulpen, Nelken und weiß ich was. Manchmal stehen auch kleine Blumentöpfe dort, wie man sie beim Discounter kaufen kann. Die werfe ich weg, ebenso wie die Schnittblumen, denn für gewöhnlich sind sie alle verwelkt – bis auf ein, zwei Sträuße, denen ich mit frischem Wasser Erste Hilfe leiste. Mutter ist bald zwei Jahre tot, mein Vater aber geht immer noch jeden Vormittag ans Grab und bringt Blumen – ohne aber die alten wegzunehmen. Er hat Demenz in einem relativ frühen Stadium. Als seine Frau starb, sah die Wohnung aus wie ihr Grab heute. Mein älterer Bruder und ich geben seither unser Bestes, die Räume in Ordnung zu bringen, das Bad aufzuwischen wie überhaupt den Müll in Grenzen zu halten.

In der DDR waren meine Eltern „kleine Leute“. Sicher hätten sie mir widersprochen, hätten den Begriff für sich abgelehnt. Mutter war Unterstufenlehrerin. Vater hatte es im Abendstudium zum Diplomgesellschaftswissenschaftler gebracht; am Ende war er Chefredakteur der Betriebszeitung im Kabelwerk Oberspree. Und doch waren sie kleine Leute: Jahrgang 1942, beide Halbwaisen. Sie hatte früh ihre Mutter verloren, er im Krieg seinen Vater. Sie hatte die Schule nach der achten Klasse verlassen, mein alter Herr nach der zehnten. Dafür hatte Mutter einen ordentlichen Beruf gelernt, Industriekauffrau, während ihr Zukünftiger erst einmal ohne Ausbildung, jedoch mit hervorragenden Orthografiekenntnissen Anstellung in einer Druckerei fand.

Ihren beruflichen Aufstieg hätten sie in der BRD der 1950er und 60er wahrscheinlich nicht erlebt. Dort verbesserten sich erst unter Brandt die Bildungschancen für Arbeiterkinder. Meine Großmutter väterlicherseits war Küchenhilfe und später Hilfskrankenschwester. Der Vater meiner Mutter war Rohrleger, der allerdings in Westberlin seiner Arbeit nachging und bis zum Mauerbau dort gut verdiente, so dass seine neue Frau sich um den Haushalt und die Kinder kümmern konnte. In der Familie meines Vaters hat es Holzarbeiter gegeben, einen Onkel Rudi, der eine kleine Gastwirtschaft hatte. Dann war da Hartmut, ein Cousin, der es am weitesten gebracht hat als Kraftfahrer. Nicht, dass er die Welt bereiste – Hartmut arbeitete beim Intershop.

Staatsvolk der kleinen Leute

Und zwar so wie in dem Witz: „Aus unseren Betrieben ist noch viel mehr rauszuholen!“ Nur hat er es übertrieben, den gestohlenen Farbfernseher verkauft. Der neue Besitzer brachte das Gerät irgendwann zur Reparatur, wo man routinemäßig die Gerätenummer an die Polizei weitergab, so dass sich Hartmut für längere Zeit dem DDR-Strafvollzug anvertrauen musste. Soweit ich das überblicke, war er der einzige Krampitz, der wirklich Ärger mit dem Staat bekam. Unter meinen Altvorderen, den Cousinen, Onkeln und Tanten ist mir niemand bekannt, der politisch in Bedrängnis geraten wäre. Auch keine Ausreisewilligen. Alle waren sie Arbeiter oder Angestellte, die sich unter großen Mühen ein bisschen Wohlstand erarbeitet hatten. Trabbi, Schrankwand, Balaton – mehr war nicht drin. Sozialismus war ihnen keine Ideologie, sondern ein gefühltes Versprechen von „denen da oben“, dass es ihnen im Lebensstandard jedes Jahr ein wenig besser ging. Erst in meiner Generation veränderten sich die Bedürfnisse und auch die Frustration. Das DDR-Syndrom: Nach außen lebte man systemkonform, während die innere Verweigerung mehr und mehr zunahm. Diese Spannung entlud sich 1989. Vater hat den Protest nicht nachvollziehen können. Er hatte dem Staat viel zu verdanken, er war der einzige Studierte bei uns, mit richtigem Hochschuldiplom. Darauf und aufs Parteiabzeichen am Revers war Vater ziemlich stolz. Eine Zeit lang hatte er in der Arbeiter- und Bauerninspektion gearbeitet. Er war ein kleines Rad im Getriebe.

Perspektivenwechsel

Im Freitag 25/2017 beschrieb Leander Scholz, wie seine Eltern als Arbeiter in der „alten BRD“ bescheidenen Wohlstand erlangen konnten. Seit den 90er Jahren aber sei es viel schwerer geworden, sich etwas Eigenes aufzubauen. Das erinnerte an Didier Eribons autobiografischen Essay Rückkehr nach Reims, aber auch anOliver Nachtweys Befund einer Abstiegsgesellschaft. Alle drei Autoren schildern spezifisch westliche Entwicklungen und Biografien. Wie aber sah es im Osten Deutschlands aus, vor und nach 1989? Davon erzählt uns hier der Schriftsteller und Historiker Karsten Krampitz. Von ihm erschien diesen Monat „Jedermann sei untertan“. Deutscher Protestantismus im 20. Jahrhundert. Irrwege und Umwege (Alibri Verlag) und zuletzt der Band 1976. Die DDR in der Krise (Verbrecher Verlag). Im September folgt ein Text von Maike Nedo.

Für meine Familie, für die meisten DDR-Bürger, hat Günter Gaus, ehedem Ständiger Vertreter der BRD in der DDR und späterer Freitag-Herausgeber, das Wort vom „Staatsvolk der kleinen Leute“ gefunden.

Das heißt, dass alle, die Besitz und Vermögen hatten, von den Nazis ermordet, ins Exil getrieben oder durch die Eigentumspolitik der KPD/SED seit Kriegsende enteignet wurden. Bis zum Mauerbau verließen Massen die DDR, viele Akademiker. Sie gingen auch, weil sie für ihre Kinder keine Zukunft sahen. An Oberschulen und Universitäten wurden Arbeiterkinder bevorzugt. „Staatsvolk der kleinen Leute“: Man könne das zärtlich sagen oder zynisch. Erstaunlicherweise spielt Gaus’ Einschätzung bei Historikern keine Rolle. Stefan Wolle, heute Leiter des DDR-Museums, ätzte Ende der 1990er über Gaus’ „romantische“ Sehnsucht nach dem einfachen Leben, ohne die Kälte der kapitalistischen Ellenbogengesellschaft, ohne die Reklamewelt der Marktwirtschaft: „Die Menschen ... waren für ihn die ‚edlen Wilden‘ des Konsumzeitalters … Wie ein Reisender des 18. Jahrhunderts stand Gaus mit Federhut, Degen und Spitzenjabot vor den unbekümmerten, sich ihrer Nacktheit nicht schämenden Einwohnern der Neuen Welt.“ Auf das Urteil, dass „die Massenabwanderung aus der DDR bis 1961 die staatliche Teilung der Deutschen zu einer sozialen hat werden lassen“, ging Wolle nicht ein.

Menschen wie meine Eltern, die nie in Konflikt geraten sind mit den Verhältnissen, tauchen in der Erinnerungspolitik nicht oder nur verzerrt auf. Mary Fulbrook, renommierte Professorin für Deutsche Geschichte am Londoner UCL, sagt, wer sie als unmoralische Kollaborateure und Komplizen eines bösen Regimes oder als einfältige Opfer einer Ideologie und Leidtragende der staatlichen Unterdrückung einstuft, der stellt „prinzipiell falsch“ dar, wie die ostdeutsche Gesellschaft funktioniert hat. Sie sei bei weitem mehr gewesen als nur ein SED-Staat. „Obwohl kein Historiker des Westens versuchen würde, die Sozialgeschichte einer westlichen Gesellschaft allein im Hinblick auf politische Maßnahmen des Regimes und den Widerstand des Volkes dagegen darzustellen, ist die Sozialgeschichte der DDR weitgehend so aufgefasst worden ...“

Die schlimmsten Jahre

Seit 27 Jahren wird das Leben in der DDR also absichtlich so erzählt, dass neun von zehn Menschen sich nicht wiederfinden. Die Geschichte der Nachwendezeit, die Sozialgeschichte der Post-DDR, muss erst noch geschrieben werden.

Rolf Hochhuth fragte einmal, ob es Unter den Linden auch nur ein ostdeutsches Friseurgeschäft gebe. Sein Wessis in Weimar: Szenen aus einem besetzten Land sorgte für enormes Aufsehen. Bald wird man sich des Stückes über den Ausverkauf der DDR wieder erinnern. Die 30-jährige Sperrfrist für die Treuhandakten läuft dann ab. Während sich die letzten Historiker mit der kommunistischen Gewaltherrschaft beschäftigen, werden die ersten Sozialwissenschaftler in die Archive gehen. Irgendein Doktorand wird die Frage stellen , ob nach der Demontage der Grenzanlagen 1990 die sozialen Gräben zwischen Ost- und Westdeutschland noch tiefer gezogen wurden.

Mein Vater wird dann nicht mehr da sein. Ganz langsam schleicht er sich aus meinem Leben. Als sich der Alte noch besser erinnern konnte, waren die 1990er die schlimmste Zeit seines Lebens. Der Mann ist gar nicht dazu gekommen, sich kritisch mit seiner Biografie auseinanderzusetzen. Binnen weniger Jahre verlor er den Boden unter den Füßen: Das Kabelwerk Oberspree wurde erst verkauft und dann geschlossen wie fast alle Industriebetriebe. Den Verlust der Arbeit empfand er als Demütigung, als eine nicht enden wollende Ohnmacht. Das Haus, in dem meine Eltern wohnten, wir aufgewachsen waren, bekam neue Besitzer, die mit Erfolg auf Eigenbedarf klagten. Auch meine Mutter, lange Zeit Nachtwache in einem Kinderheim, wurde gefeuert. In kurzer Zeit verloren sie Job und Wohnung. Und noch dazu ihre Biografie; permanent wurde ihnen von westdeutscher Seite erklärt, wie sie gelebt hatten. Ich weiß von vier Entziehungskuren, die meine Mutter in den 1990ern gemacht hat; immer wieder hat sie versucht, vom Alkohol und den Tabletten loszukommen. Eine Zeit lang lebte sie auch trocken.

Außer meinem älteren Bruder, der bis heute als Elektronikfacharbeiter in Hamburg arbeitet, weiß ich in meiner Verwandtschaft keine Erfolgsgeschichte. Viele leben von Hartz IV oder Rente. Der schwere Bruch von 1990 hat sie nicht zu besseren Menschen gemacht. Als mein Bafög auslief, riet mein Vater mir, Asyl zu beantragen. Ein schlechter Witz, den er nie wiederholen sollte, der aber zeigt, dass selbst mein alter Herr gegen rechte Gedanken nicht immun war – ausgerechnet er, der in seiner Betriebszeitung jahrelang über Solidarität und Internationalismus geschrieben hatte. Wenigstens war er mit seinem Sohn solidarisch. So gut es ging, half er mir in den folgenden Jahren, wofür ich ihm immer dankbar sein werde.

Solche Hilfe aus der Familie heraus ist in Ostdeutschland wohl die Ausnahme; die Rücklagen sind lange verbraucht. Die von Transferleistungen lebende Unterschicht reproduziert sich selbst. Wut und Resignation werden an die nächste Generation weitergegeben und verstärkt. Für etablierte Parteien, auch die Linke, waren diese Leute lange Zeit nicht von Interesse. Hat denn jemand ernsthaft glauben können, die Verwerfungen der 1990er und die Kränkungen der Agenda 2010 würden ohne politische Folgen bleiben? In den Städten hat sich wenigstens eine Zivilgesellschaft herausgebildet, die sich schützend vor Flüchtlingsheime stellt, nicht jedoch auf dem Land. Menschen ohne Herkunft und ohne Zukunft drehen irgendwann frei. Für diesen Zorn hat es keiner Flüchtlinge und keiner AfD bedurft – der Hass war schon da. Didier Eribon schreibt, Hass betäubt den Schmerz. Und so wird er auch benutzt. Die Antwort darauf kann nur eine neue Form des Respekts füreinander sein, im Kleinen wie im Großen. Wessen Leben respektiert wird, der hat es auch leichter, Respekt aufzubringen für das Leben anderer.

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