„Wer Angst hat, ist beherrschbar“, rief Heino Falcke
Foto: epd/Imago Images
Damals wollte Heino Falcke den Freiheitsbegriff herausholen aus der politischen Polemik zwischen Ost und West. Er habe zeigen wollen, „die Befreiung durch Christus ist eine andere“, sagt der heute 93-Jährige, „vor allem, was bedeutet eigentlich die Freiheit eines Christenmenschen, die in der DDR zu leben ist“. Er sprach darüber am 30. Juni 1972 in Dresden, auf der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Der habilitierte Theologe hielt das Hauptreferat „Christus befreit – darum Kirche für andere“. Der Vortrag sorgte republikweit für Aufsehen, nicht zuletzt in der SED.
Davon erzählt ein Gedächtnisprotokoll, das Falcke sieben Monate später niedergeschrieben hat, nach einem Termin beim Rat des Bezirkes
s Bezirkes Erfurt. Das Papier findet sich im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin-Kreuzberg. Falckes Bericht zufolge sei seinerzeit die SED-Seite ganz unvermittelt auf das Thema Freiheit zu sprechen gekommen. Es hieß, er habe in Dresden zwar über Freiheit referiert, diese aber nur aus christlicher Sicht betrachtet.Heino Falcke reagierte mit profunder Kenntnis der marxistischen Klassiker: Das Ziel des Marxismus sei ja das „Reich der Freiheit“. In der Phase des Sozialismus aber befände man sich nach Marx im „Reich der Notwendigkeit“. Das bedeute doch, dass die Freiheit in der Gesellschaft immer noch ein Problem sei. Und er fragte, warum es denn nicht möglich gewesen sei, sein Referat in der DDR zu veröffentlichen. Warum müsse es denn solche Schwierigkeiten mit der Zensur geben? Falcke erinnerte Gesprächspartner aus der SED an die Briefe von Friedrich Engels an August Bebel im Jahre 1891, nachdem die deutsche Sozialdemokratie den Abdruck der Kritik des Gothaer Programms von Karl Marx verhindert hatte. In diesen Briefen verlangte Engels eine vom Vorstand und selbst vom Parteitag unabhängige Presse. Es gebe doch eine Tradition der Meinungsfreiheit im Sozialismus, die aufzugreifen und fortzusetzen wäre. Heino Falcke: der spannendste Intellektuelle im DDR-KirchenbundIn der späten DDR war Heino Falcke der vielleicht spannendste Intellektuelle im DDR-Kirchenbund. Er saß viele Jahre dem Ausschuss Kirche und Gesellschaft vor – in einer Zeit, da die Kirche schrumpfte und gleichzeitig mehr und mehr an gesellschaftlichem Einfluss gewann. Das Wort vom „verbesserlichen Sozialismus“, das sich in den 1980er Jahren die meisten Oppositionellen auf die Fahne geschrieben hatten, geht auf ihn zurück, auf den besagten Synodalvortrag in Dresden. Dabei forderte der damalige Rektor des Gnadauer Predigerseminars, dass in der Kirche eine kritische Öffentlichkeit entstehen solle, eine Stätte des freien Wortes. Er sprach von „Offenheit für radikale Fragen und angstfreie Lernbereitschaft“. Die Christen im Land rief er auf, mehr Mut zu zeigen. „Furcht macht unmündig (…) Wer Angst hat, ist beherrschbar.“ Was für ein Skandal!Für Staat und Partei hieß das Alarmstufe Rot. Von „Sozialdemokratismus und Revisionismus“ sprach ein Papier der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED. Falckes Rede sei der Versuch einer klerikalen Auseinandersetzung mit „Grundpositionen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung“ gewesen, gerichtet gegen die marxistische Auffassung vom Menschen, von der Arbeit und führenden Rolle der Partei – dialektische Theologie versus dialektischer Materialismus. In seinem Denken bewegte sich Heino Falcke in der Tradition Karl Barths (1886 – 1968), dessen studentische Hilfskraft er für zwei Semester war, in den 1950ern an der Universität in Basel. Barth gilt als einer der wichtigsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Für ihn ist der Staat ein säkulares Gemeinwesen, das bestimmte Zwecke verfolgt, die auf die Sicherung der äußeren Ordnung des menschlichen Zusammenlebens gerichtet sind. Im selben Gemeinwesen – nennen wir es DDR – bildet die Kirche einen „inneren Kreis“ (und steht nicht am Rand der Gesellschaft). Staat und Kirche sind getrennt und gehören doch zusammen; die umschließende Klammer für beide ist die „Königsherrschaft Christi“. Aufgabe der Kirche müsse es sein, ebendiese Königsherrschaft im Staat angemessen zur Geltung zu bringen.Der SED-Staat – oder in den Worten Karl Barths: „Gottes geliebte Ostzone“ – machte da keine Ausnahme. In diesem Denken erscheint der Kommunismus nicht mehr als existenzielle Gefahr für Kirche und Glauben, sondern als kritische Infragestellung der westlichen Welt. Die Kirche durfte sich dem nicht durch Antikommunismus entziehen. So die Prämisse, wie sie Falcke in seiner Freiheitsrede formuliert hat. Für ihn konnte und musste die Welt verbessert werden. Doch brauche eine zu befreiende Welt auch eine befreite Kirche. Christus befreie aus der lähmenden Alternative zwischen prinzipieller Antistellung und unkritischem Sich-vereinnahmen-Lassen hin zu konkret unterscheidender Mitarbeit. „Das ist gerade nicht eine Ideologie des Sich-Heraushaltens oder eines Dritten Weges. Es ist der Weg einer aus Glauben mündigen Mitarbeit.“ Der Sozialismus sei angetreten mit dem Anspruch, alle Selbstentfremdung und Knechtschaft abzuschaffen und das Reich der Freiheit zu bringen.Die Aufgabe: Gegen Unfreiheit kämpfen„Der befreiende Christus“, so Falcke, nötige in seiner Solidarität mit den Leidenden und seiner Verheißung der Freiheit dazu, „den sozialistischen Protest gegen das Elend des Menschen aufzunehmen und mitzuarbeiten an der Aufgabe, unmenschliche Verhältnisse zu wandeln, bessere Gerechtigkeit und Freiheit zu verwirklichen“. Diese Aufgabe, gegen Unfreiheit und Ungerechtigkeit zu kämpfen, bleibe auch in der DDR-Gesellschaft, denn die Geschichte stehe unter dem Kreuz und zugleich unter der Verheißung des befreienden Christus. „Diese Verheißung trägt gerade auch da, wo die sozialistische Gesellschaft enttäuscht und das sozialistische Ziel entstellt oder unkenntlich wird.“ Gerade weil Christen dem Sozialismus das Reich der Freiheit nicht abfordern müssten, würden sie nicht „billige Totalkritik“ betreiben, die Ideal und Wirklichkeit des Sozialismus vergleicht und sich zynisch distanziert. „Unter der Verheißung Christi werden wir unsere Gesellschaft nicht loslassen mit der engagierten Hoffnung eines verbesserlichen Sozialismus.“Eine Hoffnung, die sich für den DDR-Staat wie für den ganzen Ostblock als Illusion erweisen sollte. Doch hatte Heino Falcke mit seinem Plädoyer für Freiheit und Mündigkeit das intellektuelle Kunststück fertiggebracht, die politischen Verhältnisse zu kritisieren, ohne dass ihn der SED-Staat dafür kriminalisieren konnte. Ein Beispiel, das Schule machte. Das Wort vom „verbesserlichen Sozialismus“ ermöglichte vielen Menschen in der DDR ein kritisches Denken, Reden und schließlich auch Handeln, ohne dass der oder die Einzelne sofort als Gesetzesbrecher gelten konnte.1973 wurde Falcke zum Propst von Erfurt berufen, seinerzeit der Südsprengel der Kirchenprovinz Sachsen. An die Gespräche beim Rat des Bezirkes Erfurt, wie das oben angedeutete, kann er sich noch gut erinnern. Wenn etwa ein Kind nicht zur Oberschule konnte, weil es aus einer christlichen Familie kam, suchte der Propst die Bezirksregierung im Hochhaus auf. Und immer sei dort ein Herr Hartmann gewesen, mit dem er reden musste, der stellvertretende Ratsvorsitzende. „Und wenn wir das Amtliche besprochen hatten, dann ging er schon mal hinter seinen Schreibtisch und drehte da was aus, und dann redeten wir unkontrolliert.“ Der damalige SED-Bezirkspolitiker erzählte ihm von seiner Biografie, dem Leben als Sohn eines Waldarbeiters im Thüringer Wald, von einer Schule unter Aufsicht der Kirche. Der Pfarrer gab den Religionsunterricht. „Und dann zeigte er mir seine linke Hand. Da hat er immer Prügel draufgekriegt. Weil: Er war ein Kommunistenjunge. Und die Wunde war noch zu sehen ...“Nach der Wende, sagt Heino Falcke, seien sie sich noch einmal über den Weg gelaufen. Hartmann sagte damals: „Nun, Herr Propst, jetzt geht es Ihnen doch so richtig gut.“ – „Ja“, meinte der Propst, „aber unsere Gespräche habe ich nicht vergessen.“