Die Enterbten

Gefälle Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen von Ostdeutschen besetzt: Eine „Ossi-Quote“ wird gefordert. Das Problem geht tiefer
Ausgabe 46/2017
Schwer auffindbar: 28 Jahre nach dem Mauerfall sind Ostdeutsche in Führungspositionen eine Rarität
Schwer auffindbar: 28 Jahre nach dem Mauerfall sind Ostdeutsche in Führungspositionen eine Rarität

Foto: Jochen Tack/Imago

Die „Kapelle“ an der Zionskirche ist eine Kneipe, wie es in Berlin-Mitte viele gibt. An manchen Tagen trifft man hier Carlo Jordan – Urgestein der unabhängigen DDR-Umweltbewegung. In den 1970ern organisierte er konspirative Lese- und Studienzirkel, kulturoppositionelle Veranstaltungen und unterschrieb Protestbriefe an Honecker, weswegen seine Wohnung durchsucht und er inhaftiert wurde. Später war er Mitbegründer der Berliner Umweltbibliothek, des ökologischen Netzwerks „Arche“ und im November 1989 der Grünen Partei, als deren Vertreter am Zentralen Runden Tisch der DDR Jordan die Friedliche Revolution mitprägte. Aber das ist lange her. Als Jordan in den Prenzlauer Berg gezogen ist, hat er seine Wohnung noch ehrlich besetzt – nicht gekauft, wie so viele der heute Zugezogenen. In der „Kapelle“ sitzt er am Fenster, mit Vollbart, Bauch und Brille, trinkt seinen Tee und arbeitet die Zeitungen durch, in denen gerade das Thema Ostquote diskutiert wird.

Der Chef der Bundeszentrale für politische Bildung und frühere DDR-Theologe Thomas Krüger beklagte neulich in der Berliner Zeitung die Unterpräsenz der Ostdeutschen in den Funktionseliten. 28 Jahre nach dem Mauerfall würden viele in Ostdeutschland die Dominanz der Westdeutschen als „kulturellen Kolonialismus“ empfinden. Da mag er Recht haben. Aber zur Erinnerung: Krüger, früher Jugendsenator in Berlin, war in der SPD der frühen 1990er nicht unbeteiligt, als der alten SED-Elite der Beitritt zur SPD verwehrt wurde. Für etwaige Schlüsselpositionen sollten diese Leute nicht infrage kommen. Nur haben Krüger und all die anderen Oppositionellen ihre damalige Stellung in der Gesellschaft nicht halten können: Heute gibt es weder im Bundestag noch in den Länderparlamenten einen Vertreter der alten DDR-Opposition. Joachim Gauck hat nie dazugehört. Erst im Herbst 1989 schloss er sich dem Neuen Forum an, zur gleichen Zeit ging Angela Merkel zum Demokratischen Aufbruch. Von denen aber, die in Umwelt- und Friedensgruppen, bei „Kirche von Unten“ oder „Frauen für den Frieden“ viele Jahre aktiv waren, die von Stasi und Polizei oft genug schikaniert wurden, gibt es in der „bezahlten“ Politik niemanden mehr. Reinhard Schult, Sebastian Pflugbeil, Irena Kukutz, Jens Reich, Gerd und Ulrike Poppe, Bärbel Bohley – sie alle wurden eher früher denn später aus dem Politbetrieb gedrängt.

Frank Richter, bis vor kurzem Chef der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen, fordert nun eine Ossi-Quote für Führungspositionen. Darüber kann Carlo Jordan nur müde lächeln. Er ist jetzt 66.

In den Jahren 1994/95 gehörte Jordan als Nachrücker für die Fraktion Bündnis 90/ Grüne dem Berliner Abgeordnetenhaus an. Alle weiteren Kandidaturen missglückten. Heute hält er sich mit einer kleinen Rente und publizistischen Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Dabei hat der gelernte Zimmermann und Bauingenieur sogar promoviert, mit einer Arbeit zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Grünen aber, die er im Osten mitgegründet hat, brauchen ihn nicht. Eigentlich haben sie ihn auch nie verstanden.

In den anderen Ländern des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs wird einstigen Bürgerrechtlern viel mehr Wertschätzung entgegengebracht, sie sind Botschafter im Ausland oder haben tatsächlich wichtige Führungspositionen in Politik und Gesellschaft inne. Im vereinten Deutschland bleibt ihnen allenfalls ein Job in der Stasiunterlagenbehörde. Und selbst dort sind die wichtigen Stellen mit Westdeutschen besetzt. In der Forschungsabteilung finden sich unter den 25 Mitarbeitern lediglich acht Ostdeutsche. Hubertus Knabe, Chef der Gedenkstätte Hohenschönhausen, kommt aus dem Ruhrgebiet. Immerhin gewährt er Jordan und anderen DDR-Oppositionellen ein Gnadenbrot. In seinem Museum dürfen sie Führungen machen – aber eben nicht an führender Stelle tätig sein.

Die Dominanz der westdeutschen Eliten erstreckt sich auf die gesamte Gesellschaft. Eine Anfrage der Linken ergab unlängst, dass in allen Bundesministerien von 109 Abteilungsleitern vier einen ostdeutschen Hintergrund haben. Im noch amtierenden Kabinett ist Bildungsministerin Johanna Wanka das einzige Mitglied, das in der DDR geboren wurde. Das Gefühl westdeutscher Dominanz ist daher nicht unbegründet.

Der Anteil ostdeutscher Manager in den 100 größten ostdeutschen Unternehmen, so eine Studie der Uni Leipzig, sank zwischen 2004 und 2016 von 35,1 auf 33,5 Prozent. Bundesweit sucht man ostdeutsche Führungskräfte vergeblich: Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen sind von Ostdeutschen besetzt, bei einem Bevölkerungsanteil von 17 Prozent. Im Fazit der Untersuchung heißt es, dass, „obwohl vielerorts eine Frauenquote, nirgends jedoch eine Quote für Ostdeutsche gefordert wird, die Ostdeutschen in Führungspositionen viel stärker eine Minderheit bilden als Frauen“.

Mehr Geld für Bildung wäre ein Anfang. Eine Quote für irgendwelche Salonossis aber würde nichts ändern, schon gar nicht an den Eigentumsverhältnissen. Gerade auf diesem Gebiet war die Wiedervereinigung ein einziges Desaster, jedenfalls für die Ostdeutschen. Der Schriftsteller Wolfgang Hilbig sagte einmal: „Vielleicht wird uns eines Tages die Erkenntnis kommen, dass erst jener Beitritt zur Bundesrepublik uns zu den DDR-Bürgern hat werden lassen, die wir nie gewesen sind, jedenfalls nicht, solange wir dazu gezwungen waren.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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