Eine kleine Geschichtsstunde für Springer

Medien Bei der „Welt“ weiß man nicht, wie Rosa Luxemburg aussah und verbreitet Lügen über einen verstorbenen SPD-Spitzenpolitiker
Ausgabe 34/2021

Um Geschichte wurde schon immer gerungen, auch und gerade im Feuilleton. Grundlage solcher Auseinandersetzung sollte die Akzeptanz von Fakten sein, die dann unterschiedlich gedeutet werden können. Anders also als bei Sven Felix Kellerhoff, Chefhistoriker der Tageszeitung Die Welt. Rosa Luxemburg erklärt er schon mal zur Demokratieverächterin, die im Dezember 1918 die Arbeiterbewegung gespalten habe. Dass die Kriegsgegner bereits 1917 – während Luxemburg im Gefängnis saß – aus der SPD ausgeschlossen worden waren, eine eigene Partei gegründet hatten, namentlich die USPD, die während der Novemberrevolution rund 100.000 Mitglieder vereinte (im Jahr darauf das Fünffache), interessiert ihn nicht. Bei der Welt weiß man vielleicht nicht mal, wie Rosa Luxemburg ausgesehen hat. Den besagten Artikel jedenfalls illustrierte ein Foto der SPD-Reichstagsabgeordneten Mathilde Wurm.

Peinlich sind auch die Fake News, die Kellerhoff über Manfred Stolpe verbreitet, konkret: über dessen angebliche Rolle bei der Selbstverbrennung des Oskar Brüsewitz am 18. August 1976. Nunmehr 45 Jahre ist es her, dass der Dorfpfarrer aus Protest gegen die SED im provinzsächsischen Zeitz den öffentlichen Feuertod suchte. In seinem Welt-Artikel zum Jahrestag erklärte Kellerhoff den späteren Brandenburger SPD-Ministerpräsidenten zum Mitschuldigen: „Wohl weil seine eigenen Kirchenoberen einschließlich des Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe Brüsewitz drängten, die DDR zu verlassen (ein Ausreiseantrag würde ‚bewilligt‘ werden, teilte man ihm mit), fühlte er sich alleingelassen und entschied sich zur Selbstverbrennung. Sein Opfer empfand er wahrscheinlich als Martyrium im urchristlichen Sinne.“

Abgesehen davon, dass christliche Märtyrer immer durch die Hand anderer gestorben sind, weshalb die Kirche die letzte Tat des Oskar Brüsewitz nicht als Martyrium anerkennt – der Kirchenjurist Manfred Stolpe war im Sommer 1976 noch gar nicht Konsistorialpräsident, also Verwaltungschef, der Brandenburger (einer völlig anderen) Landeskirche. Von 1969 bis 1981 amtierte Stolpe als Generalsekretär des DDR-Kirchenbundes und war als solcher bestrebt, dass kein Pfarrer mehr ausreiste. Die SED hatte sich seinerzeit einen Spaß daraus gemacht, Ausreiseanträge von Geistlichen umgehend zu bewilligen. Mit der Causa Brüsewitz hatte Stolpe nachweislich erst ab dem 18. August 1976 zu tun. Will heißen: Entweder hat der Kollege Kellerhoff völlig neue Quellen aufgetrieben – oder er verbreitet Lügen über einen toten SPD-Spitzenpolitiker, dessen Partei im Bundestagswahlkampf langsam aufholt.

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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