Die Linke hat ein ernstes Problem mit der Sprache

Kolumne Der Hass auf das Gendern ist der Kitt, der völlig unterschiedliche Leute zusammenbringt und der es der Rechten leicht macht, gegen alles Linke zu mobilisieren. Der AfD hätte man keinen besseren Knüppel in die Hand geben können
Ausgabe 37/2022
Im Wartezimmer des Jobcenters zieht man Nummern und gendert nicht
Im Wartezimmer des Jobcenters zieht man Nummern und gendert nicht

Foto: Imago / Shotshop

„Wir dürfen die Straße nicht den Rechten überlassen“, heißt es dieser Tage im Karl-Liebknecht-Haus in Berlin. Aber das habt ihr bereits, liebe Genoss:innen, als ihr die Sprache aufgegeben habt; eingetauscht gegen ein Kommunikationssystem, in dem nur Akademiker und Aktivisten problemlos sprechen können.

Dass die Geschlechter jahrhundertelang aneinander vorbeigeredet und -geschrieben haben, glaubt ihr nicht wirklich? Längst ist eure Art der Mitteilung zum Gatekeeper mutiert. Wer heute Karriere machen, zur Elite gehören will, der muss sich jener vorgeblich aufgeklärten Ausdrucksweise befleißigen und damit zeigen, wie modern er oder sie doch ist. Und politisch zuverlässig. Sprache als Stigma: Im Wartezimmer des Jobcenters wird nicht gegendert. Du ziehst eine Nummer und wartest bis du rankommst (es sei denn, du hast einen Termin).

Gibt es eigentlich Studien darüber, wie Hartz-IV-Empfänger, Niedriglöhner und Alleinerziehende auf den Sprachumbau reagieren? Inwieweit sie für derart radikale Sprachveränderungen offen sind? Menschen in existenzieller Not, die erschöpft sind, von den vielen Brüchen in ihrem Leben. Wäre doch interessant zu erfahren, inwieweit die soziale Spaltung der Gesellschaft durch die sprachliche Teilung noch einmal zusätzlich zementiert wurde. Jedenfalls werden die Unterschichten von der Linken kaum mehr angesprochen. Das können andere besser.

Die Macht der Sprache

Nur mal zur Erinnerung: der „Führer“ hatte seinen Aufstieg dem gesprochenen Wort zu verdanken. Hitlers Art zu reden, sein Hass und Pathos, zog in den Münchner Bierkellern schon in den frühen 1920er Jahren Tausende in seinen Bann. In ihrem Buch Antisemitismus als kultureller Code konstatiert die israelische Historikerin Shulamit Volkov, der Nazismus sei eine „gesprochene Kultur“ gewesen, dessen Sprache die Rede war, ohne literarische Dimensionen, ohne Privatheit, ohne Individualität. „Es war die Sprache der Demagogie, der Deklamation und des Gebrülls, mit im Wind flatternden Fahnen und dem Hakenkreuz, wohin man auch schaute.“ Nur war Sprache den Nazis kein Ersatz für ihr Handeln, sondern die Vorbereitung. Nicht zufällig verfasste Hitler seinen Schmöker ausgerechnet in den Monaten, als ihn das Gefängnis an der öffentlichen Rede hinderte. Die emeritierte Geschichtsprofessorin aus Tel Aviv verweist darauf, dass Hitler schon in Mein Kampf ausführlich die Überlegenheit des gesprochenen über das geschriebene Wort betont habe. Seinem Glauben nach wären alle weltbewegenden Ereignisse nicht durch „Geschriebenes“ zustande gekommen.

Zwei Beispiele habe Hitler angeführt: die Französische Revolution und die Wirksamkeit des Marxismus. In beiden Fällen habe er sich bemüht zu zeigen, dass Rhetorik und nicht Ideologie, Propaganda und nicht Ideen den Sieg brachten. Bei Hitler selbst fiel der Sieg recht knapp aus. Genau genommen sind die Nazis nämlich in letzter Minute an die Macht gekommen. Bei den Reichstagswahlen im November 1932 hatte die NSDAP mehr als vier Prozent eingebüßt, das waren zwei Millionen Stimmen weniger als noch bei der Reichstagswahl im Juli desselben Jahres. Frage: Hätte die Nazidiktatur womöglich verhindert werden können, wenn die Antifa dem Demagogen und Antisemiten Adolf Hitler rechtzeitig mit einer neuen Grammatik entgegengetreten wäre?

Heutzutage ist nicht nur der Antisemitismus ein kultureller Code, auch die Ablehnung einer angeblichen Gender-Ideologie kann als solcher gesehen werden. Der Hass auf das Gendern ist der Kitt, der völlig unterschiedliche Leute zusammenbringt und der es der Rechten leicht macht, gegen alles Linke zu mobilisieren. Der AfD hätte man keinen besseren Knüppel in die Hand geben können.

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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