Linke Kaderschmiede

Sucht und Ordnung Die Kneipe war schon immer ein Zufluchtsort für Proletarier. Hier wurden Gewerkschaften gegründet und Revolutionen geplant. Auch daran sollte sich die Linke erinnern
Ausgabe 36/2020
Die Wiege der Linken stand in einer Spelunke
Die Wiege der Linken stand in einer Spelunke

Foto: John Pratt/Keystone Features/Getty Images

Die Linke soll wieder an die Stammtische gehen, forderte unlängst ihr Parlamentarischer Fraktionsgeschäftsführer im Bundestag, Jan Korte. – Nun, vielleicht sollten Linke überhaupt mehr trinken. Ist doch der Alkoholismus, wie Wolfgang Neuss sagt, der berühmte dritte Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus: „offen für jedermann, leicht zu begehen und von schnellem Erfolg gekrönt“. Noch besser wäre es, wenn bei den Genossen endlich Männer und Frauen gemeinsam picheln würden, Jan Korte etwa mit Simone Barrientos, der womöglich einzigen Arbeiterin in seiner Fraktion. (Nur so als Vorschlag!) Etliche Missverständnisse ließen sich so aus dem Weg räumen, auch in Zeiten von Corona. Denn der schlimmste Feind ist immer noch der Feind in den eigenen Reihen. Wo könnte man besser innerparteiliche Feindbilder abbauen? Unter Wahrung des Abstandsgebotes, versteht sich.

Back to the roots! Erinnern wir uns: Die Wiege der Linken stand in einer Spelunke. Während sich das Bürgertum in Kaffeehäuser begab, um Geschäfte abzuwickeln oder über Kunst und Kultur zu disputieren, trafen sich die städtischen Handarbeiter schon immer in den Wirtshäusern. In den Schriften des Frühsozialisten Wilhelm Weitling erscheint das Lokal eines Gesellenvereins als erstes Symbol einer selbstverwalteten Kollektivwirtschaft. Schon bald avancierte die Arbeiterkneipe zum Kristallisationspunkt proletarischen Selbstbewusstseins. Im alten Kaiserreich betrieb die SPD ganze Volkshäuser. Friedrich Ebert begann seine Parteikarriere als Kneipenwirt. Im Wirtshaus sah Karl Kautsky ein „Bollwerk der politischen Freiheit des Proletariers“.

Der Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg resümiert über die Kaschemmen des 19. Jahrhunderts: „Zunächst sicherten sie die alltägliche Versorgung der vielen jungen, unverheirateten Arbeiter, die in die Stadt gezogen waren und nur als Schlafburschen unterkommen konnten. Sie hatten für ihre anfangs karge Freizeit keine anderen Orte als Straße und Wirtshaus. Die Kneipe war Zufluchtsort vor Kälte, Regen und Hitze. Schnaps, Bier und Wein gehörten zu den ersten Genüssen, die Arbeiter sich über die elementare Versorgung hinaus leisten konnten. Sie beförderten – im Unterschied zu den nüchternen ‚bürgerlichen‘ Getränken Kaffee und Tee – eine egalitäre Geselligkeit, in der die Distanz zu Fremden mit gleichem Schicksal rasch überwunden war.“ Die Kontakte im Wirtshaus hätten Beziehungen geschaffen, die über Fabrik, Familie und unmittelbare Nachbarschaft hinausgingen. Der hier betriebene Erfahrungsaustausch über Arbeitsbedingungen und Lohnhöhe, über freie Stellen und die proletarische Lage überhaupt habe die Kneipen zu Zentren der Arbeiteröffentlichkeit werden lassen, zu „Keimformen proletarischer Organisation“. Die proletarischen Bildungsvereine seien hier entstanden, wo auch die gewerkschaftlichen Kämpfe beraten und Streiks geleitet wurden.

Trinken hilft! Über die Zeit des Sozialistengesetzes schrieb der SPD-Vordenker Karl Kautsky 1891: „… als alle Vereinigungen der Arbeiter aufgelöst waren, und die Sozialdemokratie trotzdem fortfuhr, als einheitlicher politischer Körper fortzuleben, suchten Polizisten und Staatsanwälte mit verzweifelter Rührigkeit nach der geheimen Organisation, die die ganze sozialistische Arbeiterschaft zusammenhalte. Sie übersahen bei ihren erfolglosen Suchen, dass jedes von Parteigenossen besuchte Wirtshaus einen Geheimbund bildete, der Einmütigkeit im Denken und Handeln verbreitete und den Zusammenhang unter den einzelnen Genossen aufrechterhielt …“ Und heute, Genossen? Der lange Marsch durch die Institutionen darf nicht an der Kneipe vorbeigehen!

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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