Der Maschinenschlosser Willi Budich, 1890 in Cottbus geboren, wurde während der Novemberrevolution schwer verwundet, verlor einen Arm. Und nachdem er im November 1932 für die KPD in den Reichstag gewählt wurde, zertrümmerten ihm die Nazis während einer Parlamentssitzung das Knie. Nach Hitlers Machtergreifung misshandelte ihn die SA so schwer, dass er dauerhaft seh- und hörbehindert war. Doch zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde Budich in Moskau, im März 1938.
Wenn im Januar beim Gedenken an die Ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde der Stein für die Opfer des Stalinismus bespuckt wird, wird auch das Andenken an Willi Budich besudelt. Und solange dergleichen geschieht (wobei es dort immer Menschen gibt, die sich dem entgegenstellen), so lange können gar nicht genug Bücher geschrieben werden, die von Budichs Schicksal berichten, und dem seiner Genossen und ihrer Angehörigen. Von daher ist Andreas Petersens Studie Die Moskauer grundsätzlich zu begrüßen, auch wenn die Kernthese: Wie das Stalintrauma die DDR prägte, so neu nicht ist. Die Biografien der Opfer, von Petersen faktenreich dargelegt, lassen den Leser nicht unberührt. Vor allem das Martyrium der Familie Remmele: Als der ehemalige KPD-Vorsitzende Hermann Remmele 1937 im Moskauer Hotel Lux von Soldaten des Innenministeriums NKWD abgeholt wird, bleibt seine Familie zurück. Tochter Hedwig ist schwanger und hat bereits ein anderthalbjähriges Kind. Ihre Mutter Anna und sie werden als Angehörige eines Volksfeindes aus der KPD ausgeschlossen und verlieren ihre Arbeitsstelle. Zwei Monate später wird die Mutter verhaftet. Anderthalb Jahre wird sie im Gefängnis verbringen, ohne auch nur zu erfahren, warum.
Der, die, das Kominform?
Am Ende wird sie in der Verbannung in Sibirien sterben, ohne ihren Mann je wiedergesehen zu haben. Hermann Remmele hatte von 1920 bis 1933 dem Reichstag angehört, war Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI) gewesen, dessen Vorsitzender Grigori Sinowjew ihn noch als das „Gold der Arbeiterklasse“ bezeichnet hatte. Ernst Thälmann und Remmele seien das Beste und Kostbarste, was die deutsche Partei besitze. Sinowjew, wie Remmele lange Zeit Gefolgsmann Stalins, wurde 1936 hingerichtet. Und auch Hermann Remmele, beschuldigt der „Teilnahme an einer konterrevolutionären terroristischen Organisation“, wird am 7. März 1939 vom Militärkollegium des Obersten Gerichts zum Tode verurteilt und am selben Tag erschossen. Sein Sohn, Helmut Remmele (Jahrgang 1910), war schon im Jahr zuvor hingerichtet worden. Tochter Hedwig wird mit ihren beiden Kindern die Einzige in der Familie sein, die heimkehrt, das jedoch erst elf Jahre nach Kriegsende, in das nunmehr geteilte Deutschland, in die DDR. Und anders als so viele Moskau-Rückkehrer wird sie nicht schweigen. Wieder und wieder wird sie die Rehabilitierung ihres Vaters einfordern. Eine bittere Geschichte, die in diesem Band dankenswerterweise, wenn auch nicht zum ersten Mal, dokumentiert wird. Allerdings, und damit kommen wir zum Problem: Das Martyrium der Familie Remmele bezeugt noch keine Wahrheit hinsichtlich Petersens Meta-Erzählung, wonach die Geschichte der DDR bereits im Hotel Lux begonnen hat, der Weg hin zur stalinistischen Diktatur der 1950er schon lange vorbestimmt war. Der Schrecken im Moskauer Exil, die Lüge und das Schweigen wären „zum mentalen Fundament des neuen Staates“ geworden. Eine Aussage, die in ihrer Absolutheit zu kritisieren ist.
Petersen kennt keine Phasen, keine widersprüchlichen Entwicklungen, ganz als hätte dem Stalinismus eine einzige, in sich schlüssige Strategie zugrunde gelegen. Widersprüche selbst hat das Buch zur Genüge: Auf dem Umschlag wird angegeben, dass 8.000 Kommunisten in den 1930er Jahren ins Exil gegangen seien, im Band selbst ist von 4.600 die Rede. Einerseits habe Stalin mehr Spitzenkader der KPD ermorden lassen als Hitler, andererseits wird in der Fußnote auf Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945 (Dietz 2008) verwiesen. Von den dort aufgeführten 1.675 kommunistischen Spitzenfunktionären heißt es, dass 256 in NS-Deutschland und 208 in der Sowjetunion ermordet wurden.
Und immer wieder fehlt der Quellenverweis. So handelt Andreas Petersen en passant die Rolle der Sowjetunion im Spanischen Bürgerkrieg ab: „3.000 sowjetische Militärberater, Kominternemissäre und Mitarbeiter des NKWD waren in Spanien. Darunter nur 41 Kombattanten.“ Woher diese offenbar neuen Zahlen stammen, bleibt ungewiss. Und auch hier suggeriert Petersen, wie schon bei der SBZ/DDR, dass sich Stalin von Anfang darauf festgelegt habe, in Spanien eine Kopie sowjetischer Machtverhältnisse zu installieren. Die Forschung sieht das seit langem anders. Erwähnt sei nur die Dissertation Der verspielte Sieg. Sowjetunion, Kommunistische Internationale und Spanischer Bürgerkrieg 1936 – 1939 von Frank Schauff (Campus 2004).
Hinzu kommen etliche Ungenauigkeiten und Fehler. Else Zaisser wird schon 1947 DDR-Volksbildungsministerin, zwei Jahre vor der Staatsgründung; Otto Grotewohl ist plötzlich „Parteipräsident“. Wie wenig Petersen mit der Materie vertraut ist, wird auf Seite 218 deutlich: „Im Juni 1948 schloss man Jugoslawien aus der Kominform, dem Nachfolger der Komintern, aus.“ Erst einmal muss es lauten: „aus dem Kominform“, will heißen: „aus dem kommunistischen Informationsbüro“. Außerdem waren dort Parteien Mitglied, nicht Staaten. Man hätte also beispielsweise auch nicht Frankreich, sondern nur die Kommunistische Partei Frankreichs ausschließen können. Warum erwähnt der Autor nicht, dass die SED im Kominform nur einen Beobachterstatus zugebilligt bekam, und das sogar erst ab 1949? Weil es ihm nicht ins Bild passt.
Was die Legende betrifft, dass Stalin schon 1945 die deutsche Teilung anstrebte und in der SBZ einen totalitären Staat errichten wollte: Warum hat er die deutschen Kommunisten dann im Kominform so schlecht behandelt? Warum dann der wirtschaftliche Kahlschlag? Im Jahr 1946 betrugen die Reparationsleistungen 48,8 Prozent des Bruttosozialprodukts der SBZ. Insgesamt wurden etwa 3.400 Betriebe abgebaut und gemeinsam mit 2.500 bis 3.000 Spezialisten in die Sowjetunion gebracht. Warum hätte Stalin einem noch zu gründenden SED-Staat mit den Reparationen beinahe die materielle Existenzgrundlage nehmen sollen?
Wenn Stalin 1945 aber andere Ziele verfolgt hat, fehlt im vorliegenden Band der Beleg dafür, dass sämtliche Wortmeldungen deutscher Kommunisten zum antifaschistisch-demokratischen Wiederaufbau nur taktischer Natur waren. Petersen, dessen Arbeit von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur unterstützt wurde, liefert Behauptungen ohne Quelle. Beispiel Anton Ackermann, der nach dem Krieg zum engsten Führungszirkel der KPD und anfangs auch der SED gehörte. Über dessen Aufsatz vom besonderen deutschen Weg zum Sozialismus schreibt Petersen: „Der Artikel war natürlich direkt von Stalin abgesegnet …“ Tatsächlich? Welche Quelle hat der Autor für diese Aussage? Gut möglich, dass irgendein sowjetischer Presseoffizier den Text vorher gelesen hat. Aber „direkt von Stalin abgesegnet“?
Worum geht es überhaupt? Politbüro und SED-Apparat zogen ihre Autorität nicht aus freien Wahlen, sondern aus der Geschichte: Weil Kommunisten den Faschismus bekämpft und einen hohen Blutzoll gezahlt hatten, beanspruchte die Führung der SED ein historisches Recht auf die Macht. Wenn die Mächtigen in der DDR nun aber nicht aus dem Konzentrationslager, sondern aus dem sowjetischen Exil gekommen waren, als Überlebende oder eben auch als Akteure der Stalin’schen Säuberungen, dann wird diese Staatserzählung obsolet. So kann man freilich von der DDR berichten; wer war schon Erich Honecker? Dennoch sollte man sich mit der Literatur und den Quellen auskennen.
Wie viele andere Autoren vor ihm arbeitet sich Petersen am Mythos der Selbstbefreiung des Konzentrationslagers Buchenwald ab. Der Roman Nackt unter Wölfen (1958) sei die literarische Gründungsurkunde der DDR gewesen. Der ehemalige Häftling Bruno Apitz erzähle darin „von der heldenhaften Rettung eines Säuglings in Buchenwald durch die Komiteekommunisten“. Vielleicht hätte Petersen mal einen Blick in das Buch werfen sollen. Das Kind war etwa drei Jahre alt, wie übrigens auch in der Wirklichkeit.
Info
Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte Andreas Petersen Fischer 2019, 368 S., 24 €
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