1902: Martin Dibobe aus Kamerun ist Fahrer auf der ersten U-Bahn-Strecke Berlins
Zeitgeschichte Erfolgreich integriert lebt und arbeitet ein Kameruner im Berlin der Kaiserzeit und der beginnenden Weimarer Republik – bis er politische Interessen formuliert
Im 19. Jahrhundert gibt es sie in London, in Wien, Paris, Sydney, Chicago und anderswo. Nur in Berlin nicht. Niemals ist die Stadt Gastgeberin einer Weltausstellung, Deutschland kriegt’s nicht hin. Dabei drängt die Industrie darauf, ihre junge Macht und Energie, und die deutsche Ingenieurskunst, die so viel auf sich hält, ihr Know-how zu präsentieren. So plant man denn für das Jahr 1896 wenigstens eine „Berliner Gewerbeausstellung“ im neu angelegten, weitläufigen Treptower Park. Und die plant man groß! Borsig, Siemens, Mannesmann, Agfa sind nur einige der zahlreichen Firmen, die sich vorstellen. Nebenher wird fürs Amüsement der Besucher gesorgt. Es gibt Bier und zu essen, Lotterie, Musik und Tanz. Und eine „Erste Deutsche Kolo
olonialausstellung“. Hier sollen Waren, Schätze und vor allem Menschen aus den kolonisierten Gesellschaften präsentiert werden. Denn „Völkerschauen“, wie sie der Tier- und Menschenfänger Carl Hagenbeck in Hamburg im Programm hat, sind zu jener Zeit der Renner.Die Vorbereitungen für das Spektakel beginnen 1894. Otto von Bismarck weist die Gouverneure von Kamerun, Togo, Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika sowie die Neuguinea-Compagnie an, Kolonisierte für die Treptower Ausstellung zu werben. Im März 1896 begeben diese sich auf die Reise – ins Unbekannte. Kwelle Ndumbe aus Kamerun etwa. Der 15-Jährige, der fließend Deutsch spricht, Sohn des Duala-Königs Bell, führt die Gruppe seiner Landsleute an. Einer, der ihm folgt, heißt Quane a Dibobe; er wurde von baptistischen Missionaren auf den Namen Martin getauft. Martin ist 19 und entstammt ebenfalls der Elite. Sie alle haben Arbeitsverträge unterzeichnet. Sie wollen ganz sicher etwas von der Welt sehen. Ob sie wissen, was sie wirklich erwartet, ist unklar.Am 1. Mai 1896 wird die Gewerbeschau eröffnet und mit ihr die Kolonialausstellung. Hier präsentiert sich nun beispielsweise die damals weltgrößte Elfenbeinfirma, das Hamburger Unternehmen Meyer – 1894 wurden in den deutschen Kolonien etwa 16.000 Elefanten getötet, um mehr als 218 Tonnen Elfenbein zu exportieren.Doch lieber noch als Produkte begafft das Publikum lebende Menschen, und die gibt es in „Eingeborenendörfer“ genannten Freigehegen zu sehen, im „Kamerundorf“ etwa. Dort stehen drei Giebelhäuser der Duala nachgebaut, und vor dieser Kulisse performen 15 von ihnen sowie vier aus dem Volk der Batanga in vermeintlich traditioneller Kleidung und auf preußischem Sand „ihr Leben“. Sie trommeln, sie tanzen. Sie weigern sich jedoch, in der Rolle der „primitiven Eingeborenen“ aufzugehen. Überliefert ist, dass Kwelle Ndumbe sich ein Opernglas besorgt, mit dem er auf die, denen er zur Schau gestellt ist, zurückblickt. Am 15. Oktober endet die Ausstellung. Und obwohl es an 120 der 168 Ausstellungstage regnete, kamen über sieben Millionen Besucher.Die meisten Kolonisierten kehren nun wieder heim. Einige haben den kalten, nassen Sommer nicht überlebt. Zwanzig wollen in Berlin bleiben. Sie beginnen eine Schneiderlehre, werden Fleischer, Schuster oder als Diener angestellt. „Quane a Dibobe, genannt Martin“, liest man in den Treptower Officiellen Ausstellungs-Nachrichten vom 5. Oktober 1896, „wird bei Herrn Schlossermeister Konrad Schulz in Strausberg als Lehrling eintreten.“ Andere, auch ein Kind, werden als Verkäufer und zugleich „Dekor“ im „Deutschen Kolonialhaus“ platziert. („Deutsches Salat- und Speiseöl aus Erdnüssen unserer Kolonien. Ständiger Verbrauch in den Kaiserlichen Hofküchen.“) Ein Pastor übernimmt die Vormundschaft über die in Berlin Bleibenden. Er verwaltet ihre Taschen- und Rückreisegelder. Und erklärt, „die Eingeborenen“ könnten nun nicht mehr „ein so freies, ungebundenes Dasein wie daheim und in der Ausstellung führen, sie sollten zu deutscher Cultur und Gesittung erzogen werden, um sich später als tüchtige Handwerker in das deutsche Gewerbe einzureihen“. Er ermahnt sie, „ihren Meistern und Pflegern durch Gehorsam sowie Gefügigkeit Freude zu bereiten“.Fin de Siècle. Berlin wächst und wird schneller. Die erste U-Bahn-Linie nimmt 1902, weitgehend als Hochbahn geführt, ihren Betrieb auf. Die Züge fahren vom Bahnhof Zoo bis in die Nähe der Warschauer Straße. Die Firma Siemens hat die Strecke projektiert und gebaut, die Deutsche Bank hat sie finanziert. Martin Dibobe, der inzwischen als Schlosser für Siemens arbeitet, sattelt, begeistert von der neuen Technik, um. Er wird U-Bahn-Fahrer. Der Berliner Volks-Zeitung vom 22. April 1902 ist es eine Notiz in ihrem Lokalteil wert: „Die Betriebsverwaltung der elektrischen Hoch- und Untergrundbahn hat einen schwarzen Landsmann eingestellt.“ Frisch zum Zugführer ausgebildet, heißt es dort, werde Martin Dibobe, 25 Jahre alt, zunächst als Zugbegleiter tätig sein. Fotos, aufgenommen im Auftrag seines Arbeitgebers, zeigen ihn in nagelneuer Uniform mit Kollegen. Der erste afrikanische Zugführer Berlins! Bald kann man seinen Namen im Adressbuch finden, an wechselnden Orten im Osten der Stadt. Ein Mieter neben anderen, verheiratet, Vater. Angekommen. „Durch Fleiß und einwandfreies Betragen“, schreibt er über sich selbst, „habe ich mir eine Vertrauensstellung erworben und bin seit dem Jahr 1902 in ungekündigter Stellung als Zugführer 1. Classe thätig.“1906 reist Martin Dibobe für einige Monate nach Duala, denn in Kamerun wird eine 160 Kilometer lange Eisenbahnstrecke gebaut, die von der Küste ins Hinterland führt, und die Kolonialbehörden stellen ihn in Dienst. Er erlebt nun wieder hautnah die täglichen Gräueltaten gegen Schwarze. Er wird Zeuge der lebensgefährlichen Arbeit beim Streckenbau und sieht, wie das Eigentum seiner Landsleute missachtet und ausgeplündert wird.Wieder zurück in Berlin ist er weiter als U-Bahn-Fahrer tätig, auch in den Kriegsjahren. Sterben an der Front bleibt ihm erspart. In seiner politischen Meinungsbildung hat er sich der SPD angenähert, und er ist mit Afrikanern, die in Deutschland leben, gut vernetzt. 1919 traut er der neuen Regierung zu, das Leben in den deutschen Kolonien endlich grundlegend zu verändern. Er schreibt an den zuständigen Minister. Und richtet eine 32-Punkte-Petition an die Nationalversammlung in Weimar, in der er seine politischen Überlegungen aus den letzten Jahren bündelt und, gemeinsam mit 17 weiteren Afrikanern, als Forderungen formuliert. Selbstständig und gleichberechtigt, heißt es da, sollen die „Eingeborenen“ fortan leben. Das Deutsche Bürgerliche Gesetzbuch soll in vollem Umfang gelten. „Die Prügelstrafe in den Kolonien wird abgeschafft.“ Es soll eine Schulpflicht geben. „Die zwangsweise Arbeitszuführung der Eingeborenen an die großen Firmen muss vollständig beseitigt werden.“ Schluss mit Rassentrennung. „Wir verlangen, da wir Deutsche sind, eine Gleichstellung mit denselben.“ Schließlich fordert die Petition „einen ständigen Vertreter unserer Rasse im Reichstage oder in der Nationalversammlung. Wir wählen hierzu unseren Dualamann Martin Dibobe, Berlin, Danziger Str. 98, der uns als umsichtig und verständig bekannt ist“.Das Schreiben bleibt unbeantwortet, es kommt in der Weimarer Nationalversammlung nie zur Sprache. Aber Martin Dibobe, der Aufrührer, verliert in Berlin seine Stellung. Als ein Jahr später der Versailler Vertrag in Kraft tritt, ist Deutschland keine Kolonialmacht mehr. In Kamerun herrschen jetzt Franzosen.1922 sieht Martin Dibobe für sich und seine Familie keine Zukunft mehr in Berlin und will nach Kamerun zurückkehren. Da er den Behörden aber auch dort als politischer Aktivist bekannt ist, lässt man ihn nicht einreisen. Notgedrungen zieht er nach Liberia weiter. Hier verliert sich seine Spur.In unseren weißen Blick trat er – und nur deshalb können wir uns seiner erinnern – als Ausstellungsobjekt. Mit Intelligenz und Talent aber definierte er sich selbst. Nun, kaum verlässt er den kolonialen Machtbereich, wird er für uns wieder unsichtbar. Was aus ihm wurde? Wissen wir nicht. Seit 1922 gilt Martin Dibobe als verschollen.
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