So ist das vor militärischen Einsätzen. Du bist Soldat. Du wurdest einberufen, eingekleidet und dann hingekarrt – „verlegt“ heißt das –, ins Grenz-, also feindnahe Gebiet, das dir fremd ist, abgeladen in einer Landschaft, vielleicht findest du sie sogar schön. Du pennst in einem Zelt oder einer eilig errichteten Baracke mit anderen, die in der gleichen Lage sind. Hantierst mit der Waffe, übst und verbesserst dein Schießen. Man instruiert dich. Du lebst aufmunitioniert, auch innerlich. Kriegst ein bisschen Kulturprogramm. Du versuchst, dich zurechtzufinden. Natürlich hast du Angst. Aber die zeigst du nicht. Was sollen die Kameraden denken? Ihr würfelt, spielt Karten, erzählt euch Witze. Ihr wartet auf den Einsatz. Auf den Befehl zum Los- und Draufschlagen, Niedermetzeln. Wann kommt der? Das Warten dauert ewig, das nervt, und du denkst: Alles, was folgt, muss besser sein als dieses quälende Nichtstun. Noch hast du nicht getötet. Trotzdem, du willst los!
Der Obergefreite Karl und die Oberschützen Josef und Thomas, drei deutsche Soldaten, liegen im Juni 1941 mit ihrer Division nah der Memel in Wartestellung. Es ist die Gegend bei Tilsit, Ostpreußen, „strotzend in einem Grün wie von der Unterseite fleischiger Blätter genommen“. Hier spielt Franz Fühmanns Novelle Kameraden. Polen, Litauer, Russen, Deutsche und Juden wohnen in dieser Landschaft, seit langem. Nun drängt sich unter Kiefern mühsam versteckt Militär, „Mann an Mann, Zelt an Zelt, Geschütz an Geschütz“.
Die Memel fließt wenige Kilometer entfernt und ist Grenzfluss, seit das hiesige, nach dem Ersten Weltkrieg „verlorene“ Memelland 1939 wieder zu Deutschland kam. Litauen schloss sich, nach sowjetischem Einmarsch und unter neu installierter, moskautreuer Regierung, im August 1940 der UdSSR an. Feindesland beginnt also gleich auf der anderen Seite des Stroms.
Die Sowjetunion ist der Haupt- und Endgegner der Nazis. Polen, Norwegen, Dänemark, Benelux und Griechenland wurden von der deutschen Wehrmacht bereits erobert, Frankreich ist zu drei Fünfteln besetzt. Nun soll Stalins Staat, aber auch der Bolschewismus als Alternative und Hoffnung überhaupt zerschlagen, sollen die „Ost-Juden“ vernichtet werden. Sowjetbürger, die den Krieg überleben, werden künftig als Vielvölker-Sklavenheer, so der Plan, und ihr Land als Kornkammer und Rohstofflager dem Wohlleben der Deutschen zu Diensten sein; ja, der Krieg selbst schon müsse sich auf diese Weise ernähren und finanziert werden, lautet der Befehl.
Bist du als Wehrmachtssoldat im Mai/Juni 1941 an die Ostfront gesandt, ahnst du, dass dir ein Raub- und Vernichtungsfeldzug ohne Beispiel bevorsteht?
Die Soldaten Karl, Josef und Thomas in Fühmanns Novelle sind ahnungslos und in Feierlaune. Bei einem Übungsschießen trafen sie so gut, dass man sie belobigte: dienstfrei. Sie ziehen, gleich vom Schießplatz aus, die Gewehre noch dabei, durch Wiesen dem nächsten Dorf zu. Da gibt es eine Kneipe, da kann man trinken. Vielleicht ein Mädchen haben.
Plötzlich entdecken sie einen Vogel, ein nie zuvor, nie danach erblicktes Tier, einem Reiher ähnlich. Aber statt die Schönheit des Lebens zu sehen und die Einmaligkeit der Schöpfung zu achten, gibt es für sie, „fiebernd vor Jagdlust“, nur eins: Josef und Karl feuern, auch Thomas will das Tier schießen, doch – den ersten Schüssen folgt ein menschlicher Schrei. Sie laufen hin, wo der Vogel war. Er liegt zerfetzt im Gras. Neben ihm eine junge Frau, tot. Es ist die Tochter ihres Vorgesetzten, eines Majors. Sie war auf Besuch bei ihrem Vater, sonnte sich hier. Was jetzt? Was tun?
Sie verstecken die Tote in einer Senke. Warten, bis es Abend ist. Der 18-jährige Thomas, der nicht schoss, wird gezwungen, zu schwören: „Wenn ich euch verpfeife, habe ich den Tod verdient, Kameraden!“
Der Major hier, seine Frau zu Hause, beide wähnen die Tochter im Zug auf der Heimfahrt, so wird sie zunächst nicht vermisst. Die drei Soldaten aber beobachten, belauern, misstrauen einander. Josef stiehlt Thomas eine Patrone und sich damit aus der Schuld. Karl, der Ältere, Erfahrene, der schon in einem Freikorps diente, entdeckt den Diebstahl, wirft die Patrone fort. Nun scheint es, als habe jeder geschossen. Nun sind sie alle gleich. Aber auf Thomas, das erkennen die Kameraden, ist weiter kein Verlass. Er hat sein Gewissen nicht im Griff, er könnte sie verraten. Sie beschließen, ihn zu töten. Doch da kommt ihnen ausgerechnet der Major dazwischen. Plötzlich Alarm, der Angriff steht unmittelbar bevor – und ist die Rettung! „Thomas atmete tief, erlöst. Sie würden von hier wegmarschieren. Man würde die Tote nicht finden. Der Major würde nie erfahren, wo sie geblieben war.“
Aber Josef hat bereits seinem Vater telegrafiert, dass er irgendwie helfen solle. Josefs Vater ist ein hochrangiger SS-Offizier. Und er erscheint. Es wird nach der Toten gesucht. Das Bataillon muss antreten. Man präsentiert den Leichnam, das Gesicht ist zerschnitten. Das Bataillon erfährt: „Kameraden! Russische Untermenschen haben die Tochter eures Majors getötet und geschändet. Man fand ein russisches Bajonett bei ihr.“ Josef freut’s: „Das hat mein Alter gemacht, toll, was, diese Lösung?“
Am nächsten Tag geht es dann über die Grenze hin zum Feind. Im ersten Dorf werden zwei Mädchen genommen. Sie werden erhängt zur Vergeltung für den Tod der Majorstochter. Vergeblich versucht Thomas, das Morden zu verhindern. Er wird für verrückt erklärt, eingesperrt. Nachts stiehlt er sich fort. Seine Flucht wird bemerkt. Man schießt ihm nach. Und trifft.
Der Schriftsteller Ludwig Renn schrieb dem Autor nach Erscheinen der Novelle 1955: „Immer wieder fragte ich mich: Wie endet das? Und immer wieder nahm es eine neue, – und zwar sinnvolle Wendung.“
Franz Fühmann ist 1941 als Student in Ostpreußen eingesetzt, im Reichsarbeitsdienst. Er geht den Gang über die Grenze mit den Soldaten. Wird bald darauf selbst Wehrmachtssoldat. Gerät in sowjetische Gefangenschaft. Und kehrt erst Ende 1949, nun zum Sozialisten umgebildet – nicht heim ins Sudetenland, dem er entstammt, sondern kommt in die DDR, nach Berlin. Sofort stürzt er sich in die Arbeit im Parteiapparat der Liberal-Demokratischen Partei (LDPD) und als Schriftsteller.
Und er beobachtet sehr überrascht und angewidert ein erstaunliches westdeutsches Phänomen: Es gibt dort Kameradschaftsabende ehemaliger Wehrmachtsangehöriger, es treffen sich Traditionsvereine. Kaum endete mit Gründung der BRD 1949 die Zensur der westlichen Besatzer, veröffentlichen Generäle ihre Erinnerungen und Memoiren. Von den Verbrechen der Wehrmacht schweigen sie. Stattdessen pflegen sie die Verschwörungserzählung, wonach das deutsche Heer, selbst unpolitisch, Hitlers Opfer wurde, sich aber doch als kampfstark und tapfer bewährte, egal ob unter dem „Wüstenfuchs“ Rommel in Afrika oder unter sowjetischem Beschuss im Kessel von Stalingrad. Eine der erfolgreichsten künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema auf westdeutschen Bühnen jener Zeit ist Des Teufels General. Carl Zuckmayers Stück trägt das (behauptete) Drama bereits im Titel: Ein aufrechter Offizier der Nazi-Luftwaffe ringt tragisch-heldisch mit seinem Schicksal, im Dienst Hitlers zu stehen. Fühmann findet das zutiefst verlogen. „Kriegskameradschaft. Ich wusste, dass es das so nicht gegeben hat.“ Und in seinen Kameraden nun seziert er das Phänomen. Er fragt auch: Kann der gemeine Soldat, Dienstgrad „Kanonenfutter“, der den Krieg im Schlamm robbend erlebt, überhaupt begreifen, was vor sich geht? Und sagt: Ja, er kann. Wenn er will. Und ja. Er sollte!
Die Novelle wird Schultext für die frühe DDR. 1957 wird, ohne Fühmanns Beteiligung, ein Film aus der Geschichte gemacht und heißt nun: Betrogen bis zum jüngsten Tag. Soll dieser Titel es ehemaligen Wehrmachtssoldaten in der DDR leichter machen, ins Kino zu finden? Der Film läuft in Cannes. Aber wegen des Alleinvertretungsanspruchs der BRD nur in einer Nebensektion der Filmfestspiele.
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